Zur Lebensmittelausgabe in Eidelstedt kommen jeden Donnerstag Menschen, die ohne fremde Hilfe nicht satt werden würden. Darunter sind immer mehr ältere Personen. Sie haben keine Perspektive außer: Armut bis zum Tod.

Der Moment, in dem man einsieht: Es geht nicht mehr. Wie ist der zu ertragen? Wenn das Portemonnaie leer ist, der Magen ebenfalls, wenn man nichts mehr kaufen kann und die Zeit bis zur nächsten Überweisung der Grundsicherung oder des Arbeitslosengelds unendlich erscheint. Wenn man zugeben muss, dass man es ohne Hilfe nicht durch den Monat schaffen würde.

„Das war der Moment, an dem ich einen Teil meiner Würde abgegeben habe“, sagt Karin. Die 68-Jährige hatte sich lange gesträubt, zur Lebensmittelausgabe in Eidelstedt zu gehen. Doch irgendwann wollte sie sich nicht mehr entscheiden müssen, ob sie zwei Scheiben Brot kauft oder neue Socken. Abendessen oder warme Füße – beides zusammen ließen ihre finanziellen Verhältnisse nicht zu. „Da musste ich meinen Stolz überwinden und bin hierher“, sagt Karin.

Herzklopfen habe die Hamburgerin gehabt, aber es gab keine andere Lösung. „Nicht, wenn man noch ein bisschen Leben will,“ sagt Karin. Und das will sie. Wegen ihrer Enkel und wegen Peter Maffay, aber dazu später.

Das erste Mal sei für viele ein schwerer, entscheidender Schritt in ihrem Leben, sagt Uwe Loose. „Viele sitzen voller Scham und mit Tränen in den Augen bei der Anmeldung vor mir.“ Gerade den älteren Menschen falle es schwer. Sie denken: Wir haben den Krieg überlebt, und jetzt sterben wir am Alltag. Was haben wir falsch gemacht? Die Antwort lautet meistens: nichts, das sie hätten vermeiden können. Krankheiten, Jobverlust, Tod des Partners, Rentenkürzung – Uwe Loose kennt die Schicksale. Er kann sie nicht mehr zählen. Seit zwölf Jahren arbeitet er als Diakon in der Kirchengemeinde Eidelstedt und organisiert jeden Donnerstag die Lebensmittelausgabe am Dallbregen 1. Sein Büro ist dort der einzige Raum, dessen Türen geschlossen sind, damit die Gäste in Ruhe mit ihm reden können. Niemand möchte vor anderen als schwach erscheinen.

Obwohl es kalt ist, trägt Loose nur ein gelbes Asics-Shirt. Er hat viel zu tun: Kohlköpfe schleppen, Tütensuppen auspacken, Müsli-Packungen schichten. Es ist 10 Uhr, und in eineinhalb Stunden ist Einlass für die ersten Gäste. Einige stehen bereits draußen vor der Tür und warten. Es regnet.

Kunden klingt respektvoller

„Unsere Kunden“ sagt Loose, das klingt respektvoller als Bedürftige. Bedürftige würden ja nichts bezahlen, Kunden tun das. Jeder einen Euro. Sie geben ihn bei der Anmeldung ab, bei der Loose die Namen abhakt und die Ausweise kontrolliert. Einen Ausweis erhält, wer mittels eines Behörden-Bescheides seine Bedürftigkeit nachweisen kann – und wer Geduld aufbringt. 150 Personen sind zurzeit angemeldet, weitere 75 stehen auf der Warteliste. Sie wird Jahr für Jahr länger.

Wenn einer fünfmal unentschuldigt fehlt, fliegt er raus. Die meisten rufen schon an, wenn sie in einer Woche nicht kommen können – wegen Krankheit oder weil der verrückte Ehemann einen nicht weglässt. Ja, auch diese Geschichte kennt Loose, und er muss sie hinnehmen: dass eine Mutter mit fünf Kindern nicht auftaucht, weil der eifersüchtige Kerl durchdreht. „Was sollen die Kleinen dann essen?“ Loose schüttelt verständnislos den Kopf.

Manchmal, gerade am Ende eines Monats, wird der obligatorische Euro in vielen kleinen Centstücken abgegeben. Mühsam zusammengeklaubt. Dann weiß Loose, dass derjenige wirklich nichts mehr hat außer diesen 100 Cent. Könnte die Lebensmittelausgabe nicht auf den Euro verzichten? Wäre nicht gut, sagt Loose. Der eine Euro hat eine Aufgabe: Er sichert die Würde und die Wertigkeit. „Was nichts kostet, das wird nicht wertgeschätzt.“

Die Abwärtsspirale

Karin hat ihren Euro bezahlt und rückt den Weihnachtsmann, den sie im Haar trägt, zurecht. Dann dreht sie die Ringe an ihrer Hand. Der Schmuck ist das Einzige, was ihr von ihrem Ehemann geblieben ist. Nächstes Jahr hätte das Paar goldene Hochzeit gefeiert. Doch mit 52 Jahren starb Karins Mann an Krebs, und ihr Leben wurde ein anderes. Ein schlechteres. Sie verlor ihren Job und war plötzlich angeblich zu alt für alle neuen, um die sie sich bewarb. Die Abwärtsspirale.

„Früher konnte ich mir Schuhe für 150 Euro leisten“, sagt sie. Heute geht die Witwe gern zu ihrem Lieblingsladen, dem Schuhgeschäft Elsner an der Mönckebergstraße, und steht vor dem Schaufenster. Früher war sie drin, heute ist sie draußen. Karins Schuhe sehen dennoch toll aus. Ballerinas, die von 70 auf 25 Euro runtergesetzt waren.

„Bei Schuhen rieche ich Reduzierungen schon aus der Ferne.“ Karin lacht. Sie scheint glücklich, irgendwie. Auch neidisch sei sie nie. „Einem reichen Menschen geht es genauso dreckig, wenn er krank ist, wie mir. Da hilft kein fettes Bankkonto. Oh, ich bin dran.“ Karin geht durch die drei Räume, in denen die Lebensmittel aufgereiht sind. Sammelt Beutelreis, Nudelsuppe, Buttermilch, Joghurt, Obst, Brot, zwei Stücke Butterkuchen und Gemüse ein: „Darf ich ein paar Pilze haben, bitte?“

Einige Adventskalender liegen bereit, doch die sind für Familien vorgesehen. Karin ist keine Familie. Auf einer Dose klebt kein Label mehr, man weiß nicht, was es ist. Von Gulasch bis Ravioli könnte alles drin sein. „Das wird ein Überraschungsmenü“, sagt Karin. Sie mag Überraschungen, denn in ihrem Alltag sind sie selten. Ihre beiden Enkel sieht sie viel zu wenig, dennoch spart sie monatelang für ihre Weihnachtsgeschenke. Das grenzt schon an Kunst: von nichts noch etwas abzugeben.

Sparen für die Enkel

Karin benutzt dann kaum noch Strom und Wasser, und notfalls würde sie sich nur noch von Kartoffeln ernähren, kein Problem, sagt sie. Einen kleinen, bescheidenen Wunsch wird sie sich selbst im Mai erfüllen – wenn denn ihre Sparpolitik aufgeht: Peter Maffay beim Open-Air-Konzert in Bad Segeberg zu erleben. „Für den kann ich mich noch weiter einschränken“, sagt Karin, und die Vorfreude verjüngt ihr Gesicht um mindestens zehn Jahre. In Maffays Tabalugaland warten weder Schulden noch ausstehende Rechnungen.

Nach zwei Stunden in der Lebensmittelausgabe wird deutlich: Es besteht ein Unterschied zwischen den Generationen. Eine ältere Person nimmt auch noch eine zerdrückte Tomate, die schon aussortiert war: „Die kann man doch noch essen!“ Der Hunger der Nachkriegszeit hat sich tief in ihre Einstellung zu Lebensmitteln gebrannt. Ein junger Mann hingegen fragt etwas unhöflich, warum es heute kein Schwarzbrot gibt.

„Solche Ansprüche kann ich nicht verstehen. Sei doch dankbar für das, was wir haben“, entgegnet Loose. Es sei nun mal kein Wunschkonzert, welche Produkte von der Hamburger Tafel kommen. Die soziale Einrichtung beliefert 17 verschiedene Lebensmittelausgaben in der Stadt und übernimmt für diese die komplette Logistik, fährt also die verschiedenen Firmen und Produzenten ab, die Lebensmittel spenden.

„Erst das Fressen, dann die Moral“

Heute waren zehn Kisten Bananen dabei, eigentlich müssten sich alle freuen, findet Loose: „Ein Obst mit so vielen Nährstoffen, toll.“ Während er spricht, sortiert er die Fischpakete. Er zählt, zählt wieder. Und wird plötzlich wütend: „Hier fehlen vier Pakete! Wer hat die genommen? Das kann ich nicht ab, wenn hier tatsächlich jemand klaut!“

Wahrscheinlich gibt es keinen Ort in Hamburg, an dem man Brechts Aussage „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ näher wäre. Es besteht ein Unterschied darin, in geheizten Klassenräumen mit Schokokuss-Brötchen im Bauch über Brechts „Dreigroschenoper“ zu diskutieren oder vor Ort die Essenz seines Werkes zu erleben. Zu begreifen, wie Hunger den Charakter verändert.

„Armut macht manche Menschen egoistisch“, sagt Loose. Oft trifft der Diakon auf eine „Ich-will-ich-will“-Mentalität. Wen wundert’s. Wer sein Leben lang kämpfen musste, verliert den Glauben daran, dass Gutes von allein zu einem findet. Ohne Drängeln, ohne Missgunst. Manchmal bekommen sich die Kunden sogar in die Haare, erzählt Loose, der dann beruhigen muss: „Jeder bekommt doch was!“

Noch nie musste jemand vergeblich warten. Selbst für den Letzten blieben noch genug Lebensmittel übrig. Dennoch. Das Bauchgefühl vieler scheint zu sagen: Misstrauen! Irgendwann kommt der Tag, an dem zu wenig für alle da sein wird. Und dann will niemand in der Gruppe eine der letzten Nummern haben. Das Beste kommt zum Schluss? Nicht in einer Lebensmittelausgabe.

Dabei hat Loose extra ein System entwickelt, das größtmögliche Gerechtigkeit garantiert. Die 150 Personen sind in fünf Farben unterteilt, die jede Woche eine halbe Stunde vorrücken. Das heißt: Wer diesen Donnerstag um 11.30 Uhr dran ist, kommt nächste Woche um 12 Uhr, danach um 12.30 Uhr usw. So ist jeder mal als Erster, mal als Letzter dran.

Mit Leib und Seele Hausfrau - aber ohne große Rente

Hanne ist heute in der grünen Gruppe. Sie trägt ein glitzerndes Käppi und einen Husky-Pulli. Ihre Kleidung signalisiert das Gegenteil von der Farbe, die oft genug ihren Alltag prägt: Grau. Jeden Tag jeden Cent dreimal umdrehen. Sich am Sonnabend in der Kneipe zwei Alsterwasser gönnen, das ist schon was Besonderes. Dort wird sie auch Weihnachten verbringen. Hanne hat drei Töchter. Keine will an den Festtagen zu ihr kommen. Früher stand Hanne mitten in der Nacht auf, um Zeitungen auszutragen, so war sie pünktlich wieder zu Hause, um der Familie Frühstück zu bereiten. Andere Jobs hat die 68-jährige Witwe nicht angenommen, sie war mit Leib und Seele Hausfrau. „Heute ärgere ich mich natürlich, dass ich zu wenig gearbeitet habe, dann hätte ich mehr Rente.“

Lebensläufe wie die von Hanne sind bezeichnend für einen traurigen Trend in Hamburg: Die Altersarmut nimmt zu. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht, denn die Betroffenen gehen mit ihrer Situation selten hausieren. Häufig habe Hanne ihrer Nachbarin bereits vorgeschlagen, ebenfalls zur Lebensmittelausgabe mitzukommen, doch die Freundin weigere sich. „Wie das denn aussehe, hat sie mich ganz entrüstet gefragt“, sagt Hanne. „Als würden wir hier einen Stempel auf die Stirn bekommen: bedürftig!“ Hannes Nachbarin versteckt ihre Armut lieber zu Hause, doch Zahlen kann man nicht verstecken.

6,8 Prozent der Hamburger über 65 Jahre leben von der Grundsicherung. Das hat der Sozialverband Deutschland (SOVD) ermittelt. Nirgends sonst ist der Anteil so hoch. Die Stadt belegt landesweit den Spitzenplatz; der bundesweite Durchschnitt liegt bei 3,2 (West) und 2,1 (Ost) Prozent. „Hamburg ist eine Brutstätte der Altersarmut. Wenn wir nichts tun, schreitet diese Entwicklung weiter voran“, sagt Klaus Wicher vom Sozialverband.

In einer Stadt wie Hamburg mit hohen Lebenshaltungskosten reichen 391 Euro Grundsicherung monatlich kaum aus. 14,1 Prozent der Senioren leben unter der Armutsgrenze. 2005 waren es noch 9,5 Prozent, seitdem stieg die Zahl kontinuierlich an. Je älter Hamburg wird, desto ärmer wird es. „Viele haben am 20. eines Monats schon kein Geld mehr“, sagt Wicher. „Und was das Schlimmste ist: Aus dieser Lage können sie sich nie mehr befreien. Sie dauert bis zum Tod.“ Der Sozialverband macht vor allem die reduzierte Rentenformel und die steigende Anzahl prekärer Beschäftigungssituationen, also Arbeitsverhältnisse mit niedrigen Löhnen, verantwortlich.

Das Nein sagen fällt schwer

Doch was könnte helfen? Wicher fordert für Menschen in Grundsicherung freie Fahrten mit dem ÖPNV und einen Sozialtarif für Strom, da Hamburg schließlich einen stadteigenen Versorger habe. Auch Freikarten für Theater und Oper würden den Betroffenen helfen, am sozialen Leben teilzuhaben. Die Stadt solle außerdem ermitteln, wo genau die Alten mit geringem Einkommen leben, und in diesen Gegenden kostenfreie Hilfseinrichtungen eröffnen. „Wir plädieren jedenfalls nicht für mehr Lebensmittelausgaben, das ist nicht der eigentliche Weg. Besser wäre ein Einkommen, das den Senioren ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht. Wer arm ist, lebt ohne Würde. In einem reichen Land wie Deutschland ist das nicht nötig“, sagt Wicher.

Ohnehin wäre es fraglich, ob für mehr Ausgaben überhaupt genug Lebensmittel zusammenkämen. Die Abgabe von Produkten ist rückläufig. Vor allem Fleisch wird nicht mehr so häufig an die Hamburger Tafel abgegeben. Der Preis in den Supermärkten wird schneller als früher reduziert, dadurch verkauft sich mehr. Jeder Scan an der Kasse bedeutet einen Abzug für die Lebensmittelausgaben. Daher gilt es, die Ware klug und vorausschauend einzuteilen.

In Eidelstedt übernehmen diese Arbeit 30 freiwillige Helfer. Eine von ihnen ist Marion Zecher. 74 Jahre alt, doch ausgestattet mit einer Begeisterungsfähigkeit wie der eines Kindes. „Guck mal, was wir heute bekommen haben: Papaya! Brombeeren! Da würde eine Schale im Geschäft fast drei Euro kosten, toll.“ Zecher freut sich, wenn sie den Kunden gutes Obst anbieten kann. Manche seien sehr dankbar, andere unverschämt, wieder andere zeigten gar keine Emotionen mehr. Zecher bedient eine junge Mutter. Ihr Baby weint.

Als Nächstes kommt ein älterer Herr ohne Zähne. Dann eine Türkin. Sie möchte gerne ein paar Mandarinen mehr für ihre Enkel. „Ihre Enkel stehen aber leider nicht auf ihrem Ausweis,“ erklärt ihr Zecher. „Sie bekommen Lebensmittel für vier Personen, mehr nicht.“ Die Türkin guckt betreten. Dieses ewige Nein-Sagen, das mache ihr schon zu schaffen, flüstert die Ehrenamtliche. Drei Sekunden später strahlt sie wieder: „Victor, was darf ich dir einpacken?“ Der 15-Jährige aus Kasachstan holt jeden Donnerstag Lebensmittel für seine ganze Familie. Seine Eltern sind zu krank, um selbst zu kommen. Marion Zecher kennt zwar nicht alle Namen, doch sie erkennt alle Gesichter, und wenn die Ehrenamtliche ein Lächeln auf Victors Antlitz zaubern kann, dann scheint sie zufrieden. Dann fühlt sich das, was sie tut, nicht sinnlos an. Wo viel Schatten ist, da ist auch immer ein Licht.

Lebensmittelausgaben in der Nähe findet man unter: www.hamburger-tafel.de/hilfseinrichtungen . Das Haus Betlehem von der Katholischen Kirchengemeinde St. Wilhelm liegt an der Budapester Straße 23a und versorgt Obdachlose mit Essen. Alimaus heißt die Essensausgabe am Nobistor 42. Sie wird geleitet vom Hilfsverein St. Ansgar und Ehrenamtlichen, den „Engeln von der Reeperbahn“.