Die Reaktionen sind eindeutig: Der Tod von Ralph Giordano reißt eine schmerzliche Lücke. Hamburg trauert um einen großen, kritischen Autor.
Hamburg/Köln. Hamburg trauert um einen Mann, der sich persönlich gegen politische Unterdrückung wehren musste und für Zivilcourage und eine menschliche Gesellschaft einstand: Der Schriftsteller Ralph Giordano ist tot. Gut zwei Monate nach Siegfried Lenz ist der Hamburger Autor in der Nacht zu Mittwoch im Alter von 91 Jahren an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs gestorben, den er sich vor einigen Wochen in seiner Wohnung in Köln zugezogen hatte.
Seine langjährige Wegbegleiterin Peggy Parnass, 80, sagte dem Hamburger Abendblatt: „Ich habe einen Freund verloren. Er hatte Schmerzen und hätte noch gerne weitergelebt. Unser gemeinsamer Nenner war immer das Ausgegrenztsein, die Verfolgung – und dass wir das überwunden haben.“
Die Schauspielerin und Autorin Parnass hatte Giordano nach dessen Bestseller „Die Bertinis“ kennen- und schätzen gelernt. „Dabei waren wir nicht immer einer Meinung.“ Giordano werde vielen Menschen fehlen.
Giordano war auch als Journalist und Humanist aktiv. Seine autobiografische Familien-Saga „Die Bertinis“ (1982) spielt in Hamburg, wo er geboren wurde. Die ZDF-Verfilmung wurde zum Klassiker.
Bundespräsident Joachim Gauck hat Giordano als einen „wortgewaltigen und streitbaren Aufklärer, einen engagierten Schriftsteller und einen leidenschaftlichen Demokraten“ gewürdigt. Giordano habe als Jude während des Dritten Reiches am eigenen Leib erleben müssen, was Diktatur und Rassismus Menschen antun. Er sei ein entschiedener Kämpfer gegen jede Form von Antisemitismus gewesen, schrieb Gauck am Mittwoch. „Mit seiner literarischen und publizistischen Arbeit und seiner Begabung zum pointierten Zwischenruf hat er unser Land wesentlich mitgestaltet. Wir werden seine Stimme vermissen.“
Kultursenatorin Barbara Kisseler (parteilos) hat Giordano als „wichtigen Zeitzeugen der deutschen Geschichte“ und als „unbequemen Mahner“ gewürdigt. „Leidenschaftlich setzte er sich gegen Extremismus ein. Mit seinem Tod verliert Deutschland eine wichtige Stimme gegen Fremdenfeindlichkeit und Hamburg einen großen Mitstreiter und Namensgeber des Bertini-Preises“, sagte Kisseler am Mittwoch.
NDR-Intendant Lutz Marmor sagte: „Ralph Giordano war ein engagierter Streiter für Freiheit und Menschlichkeit. Was neben seinem literarischen und journalistischen Werk bleibt, ist der Bertini-Preis. Er würdigt junge Menschen, die couragiert gegen Unrecht, Ausgrenzung und Gewalt eingetreten sind, so wie es Ralph Giordano Zeit seines Lebens getan hat.“
In Barmbek erblickte Giordano das Licht der Welt, als Sohn eines Pianisten und einer jüdischen Klavierlehrerin. In Winterhude ging er zum Johanneum, bevor ihm der Schulbesuch von den Nationalsozialisten verboten wurde.
Er wurde von der Gestapo verhört und misshandelt. Mit seiner Familie versteckte er sich bis zum Kriegsende in einem Keller. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er zunächst als Journalist. Für die „Allgemeine Jüdische Wochenzeitung“ und den Zentralrat der Juden berichtete er über die diversen NS-Prozesse.
An den „Bertinis“ hatte er Jahrzehnte gearbeitet. Mit dem Bertini-Preis werden seit 1998 Menschen und Organisationen in Hamburg ausgezeichnet, die besondere Zivilcourage gezeigt haben.
Zuletzt hatte Giordano eine islamkritische Haltung eingenommen, weil er radikale Tendenzen befürchtete. Er schrieb auch im Hamburger Abendblatt vehement gegen Rassismus und religiösen Extremismus an. In einem Text von 2011 schrieb er:„Wenn ich Kinder sehe mit Migrationshintergrund (wie es heute so unschön heißt), Ayshe oder Bassam, wie ich sie zu nennen mir angewöhnt habe, dann entdecke ich mich immer wieder bei einem Gedanken, einem einzigen: Es soll ihnen gut gehen, es soll ihnen, verdammt noch mal, gut gehen! Und wer Ayshe oder Bassam an der Verwirklichung dieser Vision hindert, ob Muslim, Christ oder Atheist, der kriegt es, Kruzifix hin, Koran her, mit mir zu tun, der hat mich am Hals.“
Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat Giordano als unersetzliche Stimme in der öffentlichen Debatte gewürdigt. „Ein großer Verlust“, sagte Wallraff der Deutschen Presse-Agentur. „Es gibt niemanden, der ihn ersetzen könnte. Auch wenn er in seiner Kritik dem Islam gegenüber vielleicht manchmal zu überzogen und absolut erschien, braucht es so eine Stimme mit seiner Lebenserfahrung, wenn sich andere aus falsch verstandener Toleranz – die manchmal nichts anderes als Ignoranz oder Feigheit ist – wegducken.“
Die Hamburger Grünen-Politikerin Christa Goetsch sagte: „Sein entschlossener Einsatz gegen Rechtsextremismus und für die Erinnerungskultur muss für Hamburg und die Menschen in unserer Stadt ein Auftrag sein, sich nicht einschüchtern zu lassen.“
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) verwies auf eine besondere Rolle, die Giordano bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Ära gespielt habe. So habe er die Bemühungen des Bundesjustiziministeriums unterstützt, seinen Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1950er und 60er Jahren kritisch aufzuarbeiten.
Der Zentralrat der Juden äußerte sich tief betroffen über den Tod Giordanos. „Seine Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung machten ihn zu einem unermüdlichen Mahner für Zivilcourage und Demokratie“. Der Zentralrat hatte Giordano 2003 mit dem Leo-Baeck-Preis geehrt. „Seine Stimme wird uns in der jüdischen Gemeinschaft und darüber hinaus in der ganzen Gesellschaft fehlen“, sagte Präsident Josef Schuster.
WDR-Intendant Tom Buhrow lobte Giordano als „leidenschaftlichen Aufklärer, engagierten Journalisten und kritischen Menschen“. Er habe „genau da hingeschaut, wo die Ideale von Freiheit und Humanität mit Füßen getreten wurden oder bedroht waren“. Der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) sagte, Giordano habe als glaubwürdiger Mahner das Gewissen einer ganzen Generation verkörpert.