Jahrzehntelang stand das Areal neben der Hamburg Messe auf der Kippe – währenddessen verfiel der Stadtteil. Heute gilt das sanierte Karoviertel mit seiner kulturellen Vielfalt als Glücksfall.

St. Pauli. Das Karoviertel ist ein besonderes Stück Hamburg: Es ist so, wie die Schanze einst war und das südliche St.Pauli gern wäre: alternativ, avantgardistisch, bunt, entspannt – und noch kein Laufsteg für Touristen. Doch es hätte nicht viel gefehlt, und Planierraupen hätten von der Lagerstraße bis zur Feldstraße das ganze Karoviertel abgeräumt. Möglicherweise aber waren es genau diese Gedankenspiele, die den Stadtteil konserviert haben.

Es ist 50 Jahre her, da drehte Hamburg in den späten Jahren des Wirtschaftswunders noch ein ganz großes Rad. 1964 lobte die Hansestadt den Wettbewerb „Kongress- und Messezentrum Hamburg“ aus, der auf das Bestehende, das den Zweiten Weltkrieg überdauert hatte, wenig Rücksicht nahm. Ein heute weltberühmter Architekt nahm als Student für das Architekturbüro Henschker in Braunschweig an diesem Wettbewerb teil, machte einen Entwurf, der mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde: Volkwin Marg.

„Die Prämisse der Freien und Hansestadt Hamburg für diese Planung war der Totalabriss des gesamten Karolinenviertels und auch der Gnadenkirche für den Bau eines großen Kongresszentrums und die Erweiterung der Messe sowie des Justizforums. An der Feldstraße war in diesem Zusammenhang eine Großsporthalle für 20.000 Zuschauer mit Mehrzwecknutzung vorgesehen“, erinnert sich Marg. Heute ist er froh, dass die Pläne schnell scheiterten. Schon wenige Monate später, im Jahr 1965, in dem sich Marg mit seinem Partner Meinhard von Gerkan in Hamburg selbstständig machte, schrieb die Stadt einen Wettbewerb für das Congress Centrum Hamburg, direkt neben dem Bahnhof Dammtor, aus. „Gut, dass aus der radikalen Kahlschlagsanierung von 1964 nichts geworden ist und das Karolinenviertel samt Gnadenkirche erhalten blieb“, sagt Marg heute im Gespräch mit dem Abendblatt.

Dabei hatte die Stadt ihre großen Pläne konsequent vorbereitet: Seit den 1950er-Jahren hatte sie Grundbesitz und Immobilien im Karoviertel erworben und ließ die oftmals heruntergekommenen Gründerzeitbauten über die städtische Wohnungsgesellschaft „Freie Stadt“ verwalten. Der Saga-Vorläufer verhielt sich so wie private Besitzer vor Ort – träge. Nur das Allernotwendigste wurde getan oder überhaupt nicht mehr in die Häuser investiert.

„Die Messeerweiterung schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Karoviertel“, erinnert sich Rüdiger Dohrendorf, der seit 1990 für die STEG, die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg, im Karolinenviertel tätig ist. Der Senat hatte die Gesellschaft 1989 gegründet, um zwölf städtische Sanierungsgebiete zu betreuen und rund 1500 Wohnungen und Gewerbeeinheiten treuhänderisch zu verwalten. Der Versuch der Politik, Stadtentwicklung nicht länger über die Köpfe der Menschen zu machen, stieß im Karoviertel anfänglich auf große Skepsis. Bevor die Mitarbeiter der STEG beispielsweise überhaupt Schreibtische hatten, war ihr Kontor schon von Karo-Aktivisten besetzt worden. Denn im Stadtteil hatten sich viele Alternative niedergelassen, Künstler und Studenten, Zuwanderer. Den Vermietern passte das lange gut ins Konzept: Man konnte die maroden Wohnungen an wenig anspruchsvolle Mieter loswerden, die – so die Vermutung – nach einigen Jahren sicher von allein wegziehen würden.

„Wegen des drohenden Abrisses hatten die Besitzer seit 20 Jahren nichts saniert, kein Dach geflickt, kein Mauerwerk ausgebessert“, sagt Dohrendorf. „Die meisten Häuser hatten die Toilette noch auf halber Treppe, Duschen gab es, wenn überhaupt, selbst eingebaut in der Küche.“ Die politische Hängepartie um die Messseerweiterung wurde zur Hängepartie für den Stadtteil. 1968 zog das alt eingesessene Albrecht-Thaer-Gymnasium vom Holstenglacis 6 nach Stellingen – auf die Fläche hatte die Messe schon lange ein Auge geworfen. Zwar hatte die Stadt spätestens 1973 den Plänen eine Absage erteilt, Wohngebiete im Karoviertel anzuknabbern, die Messeleitung aber ließ nicht locker: Diese Flächen und damit eine Erweiterung des Messegeländes auf mindestens 80.000 Quadratmeter sei unbedingt erforderlich, hieß es immer wieder. Zwischenzeitlich wurde sogar erwogen, die Messe komplett nach Moorfleet zu verlegen, bevor sie schließlich Ende des Jahrtausends doch im Viertel weiterentwickelt wurde.

Bis dahin wurde das Viertel zu einem Brennpunkt der Stadtentwicklung. Während die einen das Karoviertel als Kampfzone gegen Kapital und Kommerzialisierung entdeckt hatten und Häuser besetzten, spürten die Spekulanten Spitzenrenditen. Einige machten gute Geschäfte – auf Kosten des Stadtteils und der Bausubstanz. Die bewegte Historie der Lama-Häuser an der Laeiszstraße 18/Marktstraße 95 böte noch heute politischen Sprengstoff: Der Sohn eines Staatsrats erwirbt 1987 die Gebäude zum Schnäppchenpreis, lässt verfallen und räumen, dann brennt es plötzlich. Schließlich veräußert er die Ruinen 1995 teuer weiter an den Verein Kinderhaus im SterniPark, der wiederum nur zum Zwischenhändler wird und diese 1997 seinerseits noch einmal teurer an die Stadt verkauft. Unglaubliche Szenen spielen sich im Karoviertel ab – im tiefsten Winter räumte die Polizei ein besetztes Haus mit Wasserwerfern – wegen des Frostes musste es kurz darauf abgerissen werden.

Bei anderen Gebäuden verzögerte der Widerstand der Bewohner den Kahlschlag: Eigentlich war der Abriss der Pastoratshäuser am Holstenglacis 1980 für die Erweiterung der Messe längst beschlossen, doch die Arbeitsgemeinschaft Karolinenviertel weigerte sich, die gut erhaltenen Altbauten zu räumen: „Wir sehen darin eine einseitige Bevorzugung wirtschaftlicher Interessen, die zulasten der jetzt schon schwierigen Wohnsituation gehen würde. Das Karolinenviertel entwickelt sich immer mehr zu einem Getto“, kritisierte der Verein 1981 im Abendblatt.

Vom Kraftwerk Karoline konnte jedenfalls der neugotische Backsteinbau des Verwaltungsgebäudes erhalten und direkt in die Messeerweiterung integriert werden. Viele andere Gebäude wurden liebevoll restauriert, etwa an der Mathildenstraße, das nach Entwürfen des Architekten Peter Stürzebecher ein neues Dach bekam. Auch die Terrassenhäuser im Viertel wurden saniert.

Langsam entspannte sich die Lage – nicht nur der behutsamen Erweiterung der Messe wegen. Auch die Häuser, die lange vor sich hin rotteten, waren durch die Stadtteilentwicklung kernsaniert worden – die Mieter blieben oftmals in ihren angestammten Wohnungen. Dabei engagierten sich nicht nur die STEG, sondern auch hanseatische Immobilienbesitzer, die auf große Renditen verzichteten und mit ihrem eigenen Geld die Sanierung stemmten.

Möglicherweise half die Hängepartie am Ende sogar, das einzigartige Charisma des Karoviertels zu erhalten. „Vom Ende her betrachtet ist es sogar ein Glücksfall, dass das Viertel nicht in den 1970er-Jahren wegsaniert wurde“, meint Rüdiger Dohrendorf. „Denn mit nachhaltiger Sanierung fing man erst in den 1990er-Jahren an.“ Der geplante Kahlschlag als Wegbereiter der Vielfalt. Das wäre eine schöne Pointe der Geschichte.