Hamburg. Trabantenstädte, Wolkenkratzer, Parken auf der Binnenalster – in den Wirtschaftswunder-Zeiten hegte man große Pläne in Hamburg. Die verrückteste Idee: Die Neue Heimat wollte ganz St. Georg abreißen.
Stadtplanung denkt gern in kühnen Entwürfen. Doch was die Neue Heimat am 20. Juni 1966 im Phönixsaal des Hamburger Rathauses vorstellte, sprengte alles bislang Dagewesene. Ein ganzer Stadtteil sollte den Abrissbirnen zum Opfer fallen, nur zwei Kirchen, das Schauspielhaus, das Hotel Atlantic sowie die Häuserzeile „An der Alster“ fanden die Gnade der übergeschnappten Planer und durften als winzige Rand- oder Innenhofbebauung erhalten bleiben.
19 Hektar Stadt zwischen der Alster über die Lange Reihe hinaus bis zur Soester Straße, von der Kirchenallee bis zum AK St. Georg waren Teil des Sanierungsgebiets. Denn Hamburg plante für sich als Weltstadt. Auf den Trümmern des alten St. Georg sollte Neu St. Georg entstehen. Ein Monstrum mit bis zu 62 Stockwerken, bis zu 200 Meter hoch und 700 Meter lang. 1975 sollte alles fertig sein, versprach der gewerkschaftseigene Immobilienkonzern Neue Heimat. Die Kosten von mehr als zwei Milliarden Mark schreckten niemand. „Das Projekt St. Georg soll beispielgebend für die Zukunft sein“, erklärte Neue-Heimat- Chef Albert Vietor.
Zukunft war ein Zauberwort. Das Hamburger Abendblatt war von dem „Superzentrum an der Außenalster“ begeistert: „An solchen Visionen hat es in Hamburg noch immer gefehlt, zwei Dinge ausgenommen: den Welthafen und die beiden Alsterbecken. Nur hier – am Wasser – ist die Stadt zweimal aus der Enge ihrer Wachstumsringe herausgebrochen, um ihre Stadtlandschaft zu bilden und ihr Glück in der Schönheit der Weite zu suchen und zu finden“, kommentierte diese Zeitung.
Raum für jene Zitadelle städtischen Lebens
Es sei zumal nach dem letzten Krieg fast alles versäumt worden, auf den Trümmern von gestern die Stadt von morgen zu errichten. „An irgendeinem Punkt muss der Sprung ins Zukünftige gewagt und eine Veränderung der Stadtlandschaft ins Auge gefasst werden.“ Mit der Begeisterung stand der Kommentator nicht allein.
Der „Spiegel“ befand: „Würde dies überalterte Quartier ... vom Hof des Atlantic- Hotels bis in die Nähe des Dirnen- Geläufs Hansaplatz und zum Alsterhotel Prem abgerissen, so wäre Raum für jene Zitadelle städtischen Lebens …, die auch den Wohn-Wünschen der kommenden Jahrtausendwende noch genügen könnte.“ Im Senat überwog die Zustimmung. Bürgermeister Herbert Weichmann, durch sein Exil in New York geprägt, sagte: „Die Hansestadt würde es begrüßen, wenn die Durchführung sich realisieren ließe.“ Oberbaudirektor Otto Sill lobte: „Ein interessantes Objekt“. Die Fernsehzeitschrift „Hörzu“ legte sogar die große Serie auf „Morgen wird es wahr“, die das Modell des Alsterzentrums als Logo nutzte.
Es war eine Zeit, die dem Neuen aufgeschlossen, ja fast verfallen war. Le Corbusier, damals kaum umstrittener Meisterarchitekt, hatte seinen Jüngern gepredigt: „Um sich selbst zu retten, muss die Großstadt ihr Zentrum abreißen und neu gestalten.“ Umfragen zufolge befürworteten 70 Prozent der unter 35-Jährigen den Bau in Hamburg. Immerhin hatten die tollkühnen Planer des Alsterzentrums schon aus einigen Fehlern der 50er-Jahre gelernt – sie wollten die strikte Funktionstrennung der Städte in Wohnen, Arbeiten und Erholen überwinden und die Innenstadt wiederbeleben.
Unter der Außenalster rollt der Verkehr
Deshalb nahmen sie sich den verfallenen Stadtteil St. Georg vor. Zum Holzdamm hin, in Richtung City, sollten drei Hochhaustürme mit 62, 57 und 51 Stockwerken in den Himmel ragen – die St. Georgs-Kirche wäre eingemauert worden. Zur Lohmühlenstraße hin wären die Türme mit 44 und 40 Stockwerken nur unwesentlich niedriger gewesen, auch hier wären die Türme des Mariendoms verschwunden. „In Form, Größe und innerer Struktur der ‚neuen Stadt in einem Haus‘ offenbarte sich ein zeittypisch naiver Glaube an wissenschaftlich- technokratische Machbarkeit“, schreibt Norbert Baues in dem Buch „Das ungebaute Hamburg“ (Junius- Verlag 1991, vergriffen).
Der Basisentwurf des Architekten Hans Konwiarz kam als wahre Wundertüte daher und versuchte, alle Hamburger anzusprechen: 20.000 Menschen sollten in dem Koloss mit seinen sich nach oben verjüngenden Hochhaustürmen leben; auf 470.000 Quadratmetern Gewerbefläche sollte ein Einkaufzentren der Superklasse entstehen, für die Freizeit standen Kinos, Bowling- und Eislaufbahnen zur Verfügung. Auf den Dächern des niedrigeren zehn- bis zwölfstöckigen Basisbaus luden Gärten und Spielplätze die Besucher ein. Allein 16.500 Parkplätze sollten entstehen, der Verkehr auf einer eigenen Ebene unterirdisch rollen und per Tunnel unter der Außenalster die anderen Stadtteile bis Sechslingspforte, Hallerstraße und Dammtor erschließen. Auch die Ernst-Merck-Brücke über die Gleise sollte verbreitert werden, das Bieberhaus dafür abgerissen werden.
Um das Monsterprojekt zu stemmen, sollten die Grundeigentümer des Stadtteils an einer Immobiliengesellschaft beteiligt werden, die Neue Heimat als Bauherr wollte Planungsrecht und Bodenordnung grundlegend verändern. Ein internationaler Architektenwettbewerb – so der Plan – hätte das Projekt in seine endgültige Form gegossen. Die Neue Heimat pries das Vorhaben fast lyrisch an: „Und wenn sich seine hohen Häuser in der einen oder anderen Gestalt eines Tages im Wasser der Außenalster spiegeln, wird Hamburg stolz darauf sein, dem Städtebau der Welt einen so kräftigen und interessanten Impuls gegeben zu haben. Und aller kleinliche Widerstreit wird dann vergessen sein.“
Grundeigentümer begannen, querzuschießen
So weit kam es nicht. Die Begeisterung ebbte ab, als die Betroffenen zu ahnen begannen, was da zwischen Alster und Steindamm in den Hamburger Himmel wachsen sollte. Damals lebten noch 6500 Menschen in dem Sanierungsgebiet, neben 30 Handwerksbetrieben gab es auch 300 Einzelhändler, von denen viele die Planungen kritisch sahen. Sie sollten nicht allein bleiben. Die Einzelhändler der Innenstadt fürchteten die Konkurrenz in Alster- Manhattan – immerhin hätte sich die Gewerbefläche der Innenstadt auf einen Schlag verdoppelt. Andere Hamburger bangten um die Stadtsilhouette. Die Grundeigentümer von St. Georg schlossen sich zusammen und begannen, querzuschießen. Diese Zweifel brachen sich auch in der Behörde Bahn – ein halbes Jahr nach der Präsentation formulierte die Baubehörde schon 16 Gegenpunkte.
Der damalige Bausenator Caesar Meister (SPD) schrieb später in einem Senatspapier, das Vorhaben könne „wegen seines Ausmaßes und der zu erwartenden Auswirkungen auf die Stadtstruktur ... nicht empfohlen werden“. Relativ rasch wurde klar, dass die Pläne der Politik zu groß waren – indem aber die Gewerbefläche schrumpfte, geriet die Gesamtfinanzierung der Türme ins Kippen. Trotzdem vereinbarten Senat und Neue Heimat 1969 eine abgespeckte Version, die sich mit 30 Geschossen beschränken sollte. In der Vereinbarung war vorgesehen, bis 1985 einen Tunnel unter der Außenalster von der Sechslingspforte bis zur Hallerstraße zu bauen. 1972 war nun als Baustart für das Alsterzentrum light angesetzt.
Doch das Projekt verzögerte sich weiter. Bürger in St. Georg machten mobil, linke Gruppen warnten vor kapitalistischem Städtebau. Die FDP schwenkte 1971 als erste Partei um: Sie plädierte für die „schrittweise Erneuerung des Stadtteils“: Neubauten und Sanierungen der Altbauten sollten das gewachsene Stadtbild erhalten – das Wort der FDP hatte Gewicht, musste Bürgermeister Herbert Weichmann doch seit 1970 mit ihr regieren. 1973 beerdigte sein Nachfolger Peter Schulz endgültig alle Planungen für das Alsterzentrum.
Atempause, bis Altbauten wieder interessant wurden
Da war nicht einmal mehr klar, ob die großen Pläne am Ende nicht eher einem „Planspiel“ (Norbert Baues) glichen, um im Interesse der Neuen Heimat das Planungsrecht deutschlandweit zu modernisieren. Im Mai 1969 sagte der damalige Neue-Heimat-Chef Albert Vietor, das Projekt in St. Georg sei vorgeschlagen worden, „um von uns das Gespräch über Stadterneuerung im Bundesgebiet in Gang zu bringen und um die Frage zu prüfen, wie man Projekte dieser Art bauen kann“. So mag das Scheitern der Pläne der Neuen Heimat rhetorische Munition an die Hand geliefert haben, die Städtebauförderung zu dynamisieren. Tatsächlich erfüllte die Bundesregierung diesen Herzenswunsch der Neuen Heimat 1971 mit einer Reform.
Für St. Georg waren die Jahre der Pläne des Alsterzentrums nur auf den ersten Blick verlorene Jahre – wegen der befürchteten Kahlschlagsanierung traten die Hausbesitzer zwar in einen Investitionsstreik, der die Häuser, zwei Drittel von ihnen vor 1890 erbaut, zusehends verfallen ließ. Zugleich bremsten die Pläne aber auch eine Modernisierung nach dem Zeitgeist der 60er-Jahre im Waschbeton-Schick, die sonst auf vielen Grundstücken kaum zu verhindern gewesen wäre. So hat ausgerechnet die Neue Heimat St. Georg die notwendige Atempause verschafft bis in die Zeit, als man Altbauten langsam wieder schätzen lernte.