Früher war der Pazifismus Markenzeichen der politischen Linken. Doch der Kampf der Kurden gegen die IS-Terroristen lässt die Front gegen Waffenexporte und Militärmissionen schneller bröckeln, als manchen bei Grünen und Linkspartei lieb ist.

Hamburg/Berlin. Soweit ist es gekommen. Ulrich Cremer, ein Grüner und Pazifist der ersten Stunde, spielt Krieg. Beruflich jedenfalls. Wargaming. Er zieht ein Buch aus dem Regal im Büro seiner Unternehmensberatung, die Kunst des Kriegsspielens. Wenn er mit Firmenvertretern für ein paar Stunden in Seminarräumen von Hotels sitzt, inszenieren sie die Wirtschaft als Schlachtfeld. Einer will ein neues Produkt an den Markt bringen, der Konkurrent will den Erfolg verhindern. „Militärische Strategien können für meine Kunden hilfreich sein, um ihre Märkte und das Handeln der Konkurrenz zu analysieren“, sagt Cremer. Und überhaupt, er habe den alten Clausewitz gelesen und die Kunst des Krieges vom Chinesen Sunzi. „Pazifisten sind nicht blöd“, sagt er.

Ulrich Cremer sitzt bei einem Becher Kaffee, schwarz, im Konferenzraum seiner Firma an der Holstenstraße und bringt seine verbalen Geschütze gegen Parteichef Cem Özdemir in Stellung. Der sagte kürzlich, dass der Westen die Terroristen vom „Islamischen Staat“ nicht mit Yoga-Matten bekämpfen könnte. Da sah es Cremer wieder, dieses Klischee des naiven Pazifisten im Strickpullover, der von einer heilen Welt träumt. Von Sonnenblumen-Diplomatie. Özdemirs Yoga-Attacke richtete sich vor allem gegen die Militärskeptiker in den eigenen Reihen der Grünen, die ja irgendwie noch immer die politische Heimat der kategorischen Gewaltgegner sein sollen. Gegen Grüne wie Cremer. „Der Parteivorsitzende darf kein Scharfmacher sein. Er muss integrieren, nicht polarisieren“, sagt Cremer. „Özdemir ist kein geeigneter Parteichef.“

Oder hat der Pazifismus keinen Platz mehr in dieser Zeit, in der vieles ins Wanken gerät? Die Enthauptungen von Journalisten durch Islamisten haben in Europa und den USA eine Allianz beschworen, die nun den „Islamischen Staat“ bekämpfen will. Deutschland liefert Waffen, in Hamburg demonstrieren linke Gruppen und Kurden für Solidarität mit dem bewaffneten Widerstand gegen Terroristen. Der Arbeitskreis der Linkspartei „Demokratie für die Türkei, Frieden für Kurdistan“ fordert verstärkte Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten gegen den IS. Sogar das oft verhasste US-Militär ist salonfähiger Bündnispartner. Überrollt die alte Solidarität der Linken mit den unterdrückten Kurden die Bastion der Kriegsgegner?

14 Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag plädierten für einen Militäreinsatz, das ist einmalig. Fraktionschef Gregor Gysi forderte kurzzeitig Waffenexporte an die Kurden, bis ihn seine verärgerte Partei wieder einfing. Die Grünen fordern ein Mandat für eine bewaffnete Mission der Vereinten Nationen. Früher war es ein CDU-Generalsekretär, der über Pazifisten von links herzog. „Heute ist es der Vorsitzende der Grünen“, sagt Ulrich Cremer. War’s das also?

Wer mehr als zwei Monate nach der Entscheidung für deutsche Waffenlieferungen an die Kurden mit Grünen und Linken spricht, hört einen Kanon aus Zweifeln und Stöhnen. Das Thema sei ein Minenfeld, sagt eine Linkspolitikerin. Viele seien einfach nur verunsichert. „Sagen Sie mir, was meine Partei darüber denkt. Ich weiß es nicht“, sagt ein Grüner. Jeder Politiker möchte seine Zitate autorisieren, bevor sie gedruckt werden. Da soll nichts missverstanden werden. Im „Wargaming“ der politischen Linken ist keine Strategie zu erkennen. Eher ein emotionales Durcheinander.

Klarheit gibt es nur noch in Parteibeschlüssen und Wahlprogrammen. „Krieg darf kein Mittel der Politik sein“, heißt es bei der Linkspartei 2013. Jede Waffe, die aus Deutschland exportiert werde, diene der Aufrüstung eines anderen Landes, fördere Unterdrückung und mache es möglich, dass anderswo in der Welt Konflikte gewaltsam geführt würden.

Jetzt aber helfen auch deutsche Waffen den Kurden. Und die politische Linke verteidigt die Lieferungen. Es gebe Notwehrsituationen, in denen eine zivile Lösung nicht unmittelbar möglich sei, sondern der Angriff abgewehrt werden müsse, sagt die Hamburger Linken-Politikerin Christiane Schneider. „Ich halte eine Bewaffnung der Kurden in Syrien und Irak für eine Existenzfrage“, sagt Parteikollegin Cansu Özdemir. Die Hamburgerin ist selbst Kurdin. „Es geht für uns ums Überleben.“ Die Kurden hätten ein Recht auf Selbstverteidigung, diese Formel hört man derzeit oft bei den Linken. Nicht jeder Bombenangriff ist schlecht.

Erlebt die Linkspartei mit der Jagd auf die Kurden in Syrien und Irak heute, was die Grünen Ende der Neunziger mit dem Massaker von Srebrenica im Bosnienkrieg durchmachten? Die Grünen waren damals Regierungspartei, Joschka Fischer ihr Außenminister. Die Koalition stimmte für die Bombenangriffe der Nato, erstmals seit 1945 kämpften deutsche Soldaten wieder in einem Krieg. Und die überstimmten Pazifisten in der Partei tobten.

„Die Grünen haben ihre Wurzeln im Pazifismus“, sagt der Hamburger Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin. Aber seit Srebrenica würde die Partei mehrheitlich Militäreinsätze als Ultima Ratio nicht ausschließen. „Responsibility to protect“, diese Leitlinie zieht sich mittlerweile durch die grüne Außenpolitik. Schutzverantwortung. „In diese Debatte passt die Situation um Kobane und den IS“, sagt Sarrazin. Sogar die Grüne Jugend, die Linken unter den Grünen, fordert nun ein Eingreifen der Bundesregierung. Es sei Aufgabe der Koalition auf ein Uno-Mandat hinzuarbeiten.

„Nie wieder“ war die Lehre aus den Weltkriegen. Intervenieren für den Frieden ist das Credo der Grünen heute. Das Wort Pazifismus taucht im Wahlprogramm nicht mehr auf, allenfalls als Kapitel aus dem Geschichtsbuch. „Frieden schaffen ohne Waffen – dieser Anspruch war ein Antrieb der grünen Parteiwerdung“.

Doch waren Grüne und Linke überhaupt jemals pazifistische Parteien? Als Anfang der Achtziger die von den USA unterstützte Militärjunta in El Salvador die Opposition niederschlug, sammelte die deutsche Linke Geld für Waffen. El Salvador, Palästina, Kurden – wenn die vermeintlich Schwachen gegen die Mächtigen kämpfen, gegen Amerika oder Israel, ist Gewalt für manche Linke kein Tabu. Und heute, so berichten wütende Politiker der Linkspartei, würden einzelne Mitglieder in internen Diskussionen die Radikalen des Islamischen Staates gar als „anti-imperialistische Kämpfer“ verklären. Ganz in der Logik der Terroristen.

Ulrich Cremer spendete nicht für El Salvadors Waffen. Er war schon damals gegen jede Gewalt. Die Bundeswehr machte aus ihm einen Pazifisten. Er leistete Wehrdienst in einer Atomwaffen-Einheit. Damals habe es immer geheißen, dass die Nuklearwaffen für Stabilität im Kalten Krieg sorgen. Cremer glaubte schnell nicht mehr daran. Atomwaffen würden vor allem eines hinterlassen: Verwüstung. Erst 1990 kam Cremer zu den Grünen, war Sprecher der Arbeitsgruppe Frieden. Neben der Politik war er lange Abteilungsleiter bei einem Konsumgüterkonzern. „Ich weiß, dass ich als Pazifist in der Minderheit bei den Grünen bin.“ Wenn seine Parteikollegen von „Schutzverantwortung“ sprechen, nennt er das „Robin-Hood-Einsätze“. Als Kampf für das Gute, für das Gerechte, so würde jeder Einsatz dargestellt. „Aber es ist nicht drin, was draufsteht.“

Cremer hat Verbündete in der Linkspartei. Der Hamburger Rüstungsexperte Jan van Aken reiste mehrfach in die Kurdengebiete. Die Kämpfer führten ihm erbeutete deutsche Milan-Raketen vor, mit denen die IS-Islamisten zuvor auf die Kurden schossen. „Wir sehen schon jetzt, dass Waffen in die Hände der Dschihadisten geraten“, sagt van Aken.

Haben die internationalen Militäreinsätze Ländern wie Afghanistan oder Irak Demokratie gebracht? Sicher nicht. War das zu erwarten? Kaum. Was kommt nach den Luftangriffen? Schwer zu sagen.

Das sind die Fragen, die Pazifisten ihren Gegner stellen. Die Gegenfrage lautet: Heben Pazifisten ihre eigenen Moralvorstellungen über das Leid anderer? Oder nur: Wie lange wollt ihr noch zuschauen?

Der Schriftsteller und Pazifist Stefan Zweig brachte das ganze Dilemma auf den Punkt: Im Frieden ist der Pazifismus überflüssig, in Kriegszeiten wahnwitzig. Ulrich Cremer sagt: „Erst wenn die schlimmen Folgen des Krieges sichtbar werden, erstarkt der Pazifismus wieder.“

In Syrien und Irak wurden die schlimmen Massaker der IS-Terroristen sichtbar – erst dann griff die Weltgemeinschaft zur Waffe. Vorher waren es vor allem die Kurden der Arbeiterpartei PKK, die sich den Terroristen des IS entgegengestellt und das Leben vieler fliehender Christen gerettet haben. Waffen aber liefert die Bundesregierung nur an die Peschmerga, da die PKK in Deutschland als Terrorgruppe gelistet ist.

Deshalb sind manche Linke und Grüne nun geeint in der Opposition gegen die Bundesregierung – egal, ob sie für oder gegen Luftangriffe oder Waffenlieferungen sind. Die PKK gehöre von der Terrorliste. Die Türkei dürfe das Selbstverteidigungsrecht der Kurden nicht länger blockieren. Auch Pazifist Cremer sagt: „Es darf nicht sein, dass der IS noch Öl in die Türkei liefern und dort verkaufen kann.“ Und alle sagen: Der Westen müsse humanitäre Hilfe für Kurden und Christen auf der Flucht vor dem IS leisten. Es ist eine Frage, die unter Linken nicht lange diskutiert werden muss.