Serie Teil 6: Uwe Seeler macht sich unsterblich – weil er dem Lockruf des Geldes widersteht

32 Jahre Entzug nach dem Titel von 1928 haben den Hunger genährt. Endlich ist es wieder so weit! Die Ehrung der Helden am Tag nach der erneuten Meisterschaft vom 25.Juni 1960 mit einem 3:2 gegen den favorisierten 1. FCKöln wird zu einem Triumphzug, den Hamburg so noch nicht erlebt hat – und so schnell auch nicht wieder erleben wird. Zwischen 100.000 und 200.000 Sportsfreunde verwandeln die Rothenbaumchaussee in einen Boulevard überschäumender Begeisterung, als die Heroen von Frankfurt in Käfer-Cabrios vom Dammtor zur Hallerstraße chauffiert werden. Nicht nur in Harvestehude sind drei Farben Trumpf: Schwarz, Weiß, Blau. Im Rothenbaum-Stadion begrüßen 20.000 Besucher ihre Jungs mit einem Orkan der Begeisterung. Auf dem Balkon der Vereinsvilla gegenüber präsentiert der doppelte Torschütze Uwe Seeler die Trophäe. Sogar Vadder Erwin, so wird berichtet, habe zum Taschentuch greifen müssen, um sich zu schnäuzen. „’n beten verkühlt“, sagte er auf Nachfrage. Na klar...

Nach einer zünftigen Feier mit dem einen oder anderen Kaltgetränk ist recht früh Abpfiff: Am Montagmorgen nach der HSV-Fiesta ruft die Arbeit. Ganz normal ist das. Vadder Erwin bricht in aller Früh auf, um als Stauerviz im Hafen seinen Pflichten nachzugehen. Auch der neue Deutsche Meister Uwe Seeler tritt um 9Uhr seinen Dienst in der Spedition Schier, Otten & Co. in der Innenstadt an – auf die Minute pünktlich, wie es sich gehört. Sein Chef hat einen vor Freude geröteten Kopf. Er klopft seinem Mitarbeiter Seeler auf die Schulter, ordnet dann jedoch an: „Los, an die Arbeit!“ Noch bis Ende 1960 bleibt „der Dicke“ Mitarbeiter der Firma.

Kurz nach 18Uhr an diesem 27.Juni ist Fofftein. Uwe Seeler nutzt den Feierabend mal ohne Training, um unverzüglich zur Familie nach Norderstedt zu fahren. Weil es knapp drei Monate vor dem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft ein weit bedeutenderes Ereignis zu feiern gab. Gemeint ist nicht der Titel des nationalen Torschützenkönigs, den „Uns Uwe“ zum dritten Mal in seiner Karriere erringt. Besser noch: herzlich willkommen, Kerstin Seeler! Mit dem Nachnamen McGovern leitet sie heute die Uwe Seeler Stiftung.

Eines Abends im April 1961 sagt Ilka: „Uwe, komm mal bitte ans Telefon.“ „Da ist ein Herr aus Italien, der dich sprechen möchte.“ Der Signore kommt ohne Umschweife zur Sache: Wenn Seeler seinem Lockruf folgt, werden er und seine Familie sich nie wieder im Leben finanzielle Sorgen machen müssen. Neben einem lukrativen Dreijahresvertrag, einer Villa in bevorzugter Lage, Auto, Chauffeur, Kinderbetreuung, weiteren Bediensteten und jedem erdenklichen Luxus soll es – quasi als Appetithäppchen – eine halbe Million D-Mark auf die Hand geben.

So, wie er ist, trickst Uwe Seeler nicht, sondern geht den geraden Weg: Sowohl der Heimatverein HSV als auch Bundestrainer Sepp Herberger wissen Bescheid, dass in der Nacht nach dem Europapokalspiel gegen Barcelona am 26.April 1961 (ein 2:1-Sieg) ein nicht nur für den deutschen Fußball entscheidendes Gespräch ansteht. Sonst gilt höchste Geheimstufe. Trainer Helenio Herrera lässt sich nach dem Abpfiff vom Volkspark ins Atlantic-Hotel an der Außenalster fahren. Gemeinsam mit einem Dolmetscher und Beratern wartet er in einer Suite auf Uwe Seeler.

Um 21Uhr geht’s zur Sache. Uwe lässt sich eine Cola servieren. Nach einem kurzen Vorgeplänkel über das Spiel legt Senor Herrera die Fakten auf den Tisch. Neben dem Handgeld, das sich im Laufe der Verhandlungen auf 900.000 Mark erhöht, winken dreimal 500.000 Mark Jahresgehalt, Prämien und so weiter. Unfassbare Summen für damalige Zeiten. Uwe wird ganz schwindelig. Nie zuvor gab es ein so traumhaftes Angebot für einen deutschen Sportler. Zum Vergleich: Das Durchschnitts-Bruttoeinkommen der Deutschen beträgt in diesem Jahr 6700 Mark – im Jahr. Auf heutige Verhältnisse übertragen, würde Seeler mindestens so viel Geld bekommen wie Ronaldo oder Messi.

In Seelers Brust schlagen zwei Herzen. Darf er ein solches Angebot allein schon mit Rücksicht auf die Absicherung seiner Familie ablehnen? Laut Vertragsspielerstatut des Deutschen Fußballbundes dürfen Oberligaspieler maximal 400 Mark im Monat verdienen. Die Spedition hat Seeler Ende des Vorjahres verlassen und Anstellung als Vertreter einer Baustoffgroßhandlung gefunden.

Uwe Seeler erbittet Bedenkzeit und braust mit seinem Ford 12 M aus der Hamburger Innenstadt nach Norderstedt. Ilka nimmt ihren aufgewühlten Mann in Empfang, serviert ihm ein Quarkbrötchen, sorgt für Ruhe. Das letzte Wort habe er zu sprechen.

Seeler findet keine Ruhe. Der Mann, der sonst auch vor großen Spielen wie ein Bär schlafen kann, wälzt sich im Bett hin und her. Gegen Mitternacht macht er sich zu Fuß auf den Weg und spaziert allein über das HSV-Trainingsgelände. In diesen Minuten reift sein Entschluss: „Ich bin Hamburger, ich bleibe Hamburger. Ich gehe nicht!“

„Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus“, sagt „Uns Uwe“ mit dem Abstand von mehr als 50 Jahren bei einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer seines Hauses in Norderstedt. Ehefrau Ilka nickt zustimmend. Beide können sich noch genau an die turbulenten Tage im April 1961 erinnern. Und beide betonen das gute Gefühl, die Entscheidung pro Hamburg, pro HSV und pro weiteres Leben in vertrautem Umfeld niemals bereut zu haben.

Mailands Trainer ist fassungslos – und hat tiefen Respekt vor Seeler

Inter Mailands Trainer Herrera, der den Spitznamen „Sklaventreiber“ hat, schüttelt fassungslos den Kopf. „Herr Seeler“, lässt er übersetzen, „noch nie in meinem Leben habe ich es erlebt, dass ein Mensch auf so viel Geld verzichtet.“ Ein paar Jahre später gibt er zu Protokoll, dass er den Beschluss des Hamburgers zwar nicht nachvollziehen konnte, jedoch Respekt und Hochachtung einer Persönlichkeit gegenüber hatte, die sich selbst treu bleibt und eben nicht käuflich ist. Die Überschrift des Hamburger Abendblatts nach Seelers Entscheid sagt alles: „Ein Verzicht ohne Beispiel.“ Beruflich sind die Weichen gestellt: Der Sportschuhhersteller Adidas aus Herzogenaurach offeriert der Familie Seeler eine wirtschaftliche Perspektive, um die Zukunft in der Hansestadt gestalten zu können. Auf dieser Basis wird das Häuschen am Ochsenzoll nach und nach erweitert. Denn im Oktober 1963 wird Töchterchen Nummer zwei erwartet. Uwe Seeler ist mit Anpfiff der WM in Chile 25 Jahre alt. In den vergangenen Jahren ist in seinem Leben so ungemein viel passiert. Ohne sich vom Wesen her zu ändern, ist der gebürtige Eppendorfer zum Star geworden – weit über die Grenzen Hamburgs hinaus.

In ganz Deutschland schätzen sie seinen Spielstil und sein Naturell. Seine Entscheidung mit dem Herzen gegen die Köder aus Mailand hat seinen Nimbus noch genährt. Bis heute. Wer Millionen in den Wind schlägt, sich und seiner Stadt treu bleibt, hat das Zeug zum Volkshelden.

Morgen: Schmidt und Merkel über Uwe Seeler