Abendblatt-Serie Teil 4: Uwe Seeler ist endlich eine Rothose. Für ihn und das Land geht es stetig bergauf

Willkommen in der Familie, Uwe Seeler! Denn tatsächlich ist der Hamburger SV 1946 nichts anderes. Der Verein ist zwar wer in der Stadt, von jeher, doch werden Freundschaft und kameradschaftlicher Geist hochgehalten. Ganz selbstverständlich ist das. Das Grauen des Naziterrors und des Weltkrieges sind vorbei, auch wenn die Hansestadt in Trümmern liegt. Endlich geht es aufwärts – in kleinen Schritten, aber immerhin.

Auch Uwe, zehn Jahre alt und nach wie vor Schüler an der Martinistraße in Eppendorf, spürt den Optimismus allerorts. Glücklich und stolz trägt er seinen HSV-Ausweis mit sich. Da der Sportplatz an der Rothenbaumchaussee vom Bombenhagel weitestgehend verschont blieb, kann schon bald wieder gespielt werden.

Trainiert jedoch wird in Norderstedt. Meist in einer kleinen Gruppe fahren die Jungs mit der U-Bahn nach Ochsenzoll. Via Schmuggelstieg laufen sie dann zum Übungsgelände an der Ulzburger Straße in Harksheide, dem heutigen Norderstedt, zum klubeigenen Areal. Mit 13 Jahren fährt Uwe dann oft mit dem Fahrrad von Eppendorf an die Landesgrenze. Dieses Rad hat er sich selbst verdient.

Für Muddern muss der lütte Uwe Milch holen – für Vaddern Zigaretten

Um die Ecke haben mehrere Kohlenhändler wieder gut zu tun. In Vadders Auftrag muss Uwe zum Zigarettenhöker gehen und Tabakware der Marke Golddollar sowie Juno ohne Filter erstehen. Zehn Stück eine Mark, auch das ist unvergessen. Vadder nimmt’s mit der Sorte nicht allzu genau. „Hauptsache, es qualmt“, meint Anny. Auch Overstolz, in der orange-roten Verpackung, oder die grüne Eckstein werden gern genommen. Bei Bäcker Gneisenau am Lokstedter Weg wird erstklassiger Butterkuchen feilgeboten. Auch Im Tale ist ein Bäcker ansässig.

Bei Julius Busch kaufen die Kinder Rundstücke fürs Frühstück oder für 20 Pfennig Altkuchen – für den sofortigen Verzehr noch auf der Straße. Bei Busch wird auch frische Milch vom Bauern angeliefert. Uwe wird losgeschickt, um mit der Milchkanne Nachschub zu holen. Manchmal geht er in Vadders Auftrag Richtung Lokstedter Weg, um in einer in einem Flachbau untergebrachten Schankwirtschaft einzukehren. „Old Erwin“ drückt dem Jungen eine Literflasche mit Bügelverschluss in die Hand. Oder zwei. Alternativ dient auch ein Halbliter-Humpen mit Deckel als Transportgefäß. Uwe ist alles andere als ein Stubenhocker; für sein Leben gern buttschert er durch Eppendorf.

In einem Eckladen an der Frickestraße bietet ein Milchladen nicht nur Wurst und Gemüse aus dem Alten Land, sondern auch Naschwerk an. Nicht selten verplempert Uwe sein Taschengeld, um für 20 Pfennig Bonsche zu erwerben. Eine grandiose Fundgrube ist ein Kolonialwarenladen in der „Fricke“. Dort gibt es so Wunderbares wie Salmiakpastillen, Sternelollis oder „Negertaler“, wie dieser Süßkram damals bezeichnet wird. Für zehn Pfennig packt der Höker zehn Bonbons in eine Papiertüte, die so herrlich knistert. Spannend sind ebenfalls die Besuche bei Landwirt Schiemann in Lokstedt. Bei aller Liebe jedoch bleibt Uwe seinem Leibgericht treu, bis heute übrigens: Knackwürste, schön prall, sind nicht zu schlagen.

Mentor und Mäzen des HSV in der Nachkriegsära ist Paul Hauenschild, ein sportbegeisterter, warmherziger Mann. Dass „Onkel Paul“ besonders Uwe Seeler tief ins Herz geschlossen hat, liegt nicht nur an seinen Toren, sondern auch an dessen Charakter. Schon damals bringt Uwe seine Lebenseinstellung so auf den Punkt: „Was gibt es Schöneres, als normal zu sein.“

Ende der 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts kann Uwe noch nicht ahnen, dass Hauenschild ein Jahrzehnt später das Fundament für Uwes privates Zuhause legt, indem er ihm ein Grundstück im Südwesten der HSV-Anlage am Ochsenzoll, links um die Ecke vom ehemaligen Restaurant Lindenhof, überlässt. Für „ein Ei und ein Butterbrot“.

Immer wieder lässt sich „Onkel Paul“ beim Training sehen. Auch privat weiß er eine Menge von seinen Jungs. Dazu gehören Informationen über Hunger und Armut. Um die Schüler mit den teilweise ausgemergelten Körpern ein wenig aufzupäppeln und in Form zu bringen, versorgt er die Gemeinschaft mit Bouillon, Würstchen, belegten Rundstücken, Kuchen und Kakao. Die lassen sich nicht zweimal bitten und langen kräftig zu. So und so kommen die Jungs immer besser in Schuss. In Anspielung auf die Raute auf ihrem Spieldress werden sie im Verein halb liebevoll, halb anerkennend „Salmi-Bubis“ genannt.

Die Seelers ziehen um: erst an den Rothenbaum, dann zur Hoheluft

Günther Mahlmann, erst Leiter der HSV-Nachwuchsabteilung, später zusätzlich Trainer der Ligamannschaft, hält sich beim Zulangen eher zurück. Auf alten Fotos wirkt der Lehrer wie ein Beispiel der Nachkriegsgeneration: viel zu schlank, eher dürr, sehnige Gestalt, meist ein graues, kleinkariertes Jackett am Mann. Dafür hat er umso mehr Herzblut, Sportsgeist und vor allem Einfühlungsvermögen. Denn es bedarf eines feinen Händchens, um die Burschen mit sehr unterschiedlichen Elternhäusern und Lebensformen und Charakteren zu einer Einheit zu formen. Die einen, wie Uwe, gehen zur Volksschule, andere wie Jürgen Werner oder Gerd Krug streben das Abitur an. Mahlmann schafft es, aus Individualisten einen verschworenen Haufen zu bilden.

Nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich geht es bergauf. Waren zuvor meist Sachwerte begehrt, blühte der Schwarzmarkt mitsamt „Zigarettenwährung“, bringt die Währungsreform 1948 die Wende.

Uwe hat ein paar Tage vor Vadders finalem HSV-Kick die Volksschule nach der 9. Klasse erfolgreich abgeschlossen. Als Platzwart am Rothenbaum verdient Vadder ein paar Mark und Groschen hinzu. Um 1950, ganz sicher wissen das die Geschwister Gertrud und Uwe Seeler auch nicht mehr, kann sich die Familie einen Umzug leisten: Aus der kleinen Wohnung am Winzeldorfer Weg 16, fast zwei Jahrzehnte das Zuhause der Seelers, geht es ein Stück weiter an die Rothenbaumchaussee, fast Höhe Klosterstern.

Rund vier Jahre später ziehen die Seelers erneut um. Ziel ist die Bismarckstraße 104 unweit des U-Bahnhofs Hoheluftbrücke. Und sehr nahe der Isestraße. Dort ist eine gewisse Ilka Buck mit ihrer Familie ansässig, was sich als äußerst praktisch erweisen wird.

Beim Einzug in die Bismarckstraße ist „Uns Uwe“ fast 18 Jahre alt. Mit seinem Geburtstag im November 1954 kann er zufrieden Zwischenbilanz ziehen: Fußball läuft gut, Privatleben ebenfalls. Dafür verantwortlich ist eine Silvesterfeier ein knappes Jahr zuvor. Dort wird der „Dicke“ vom Glück geküsst. Erst nur vom Glück, wenig später von Ilka, seiner Traumfrau. Und das gilt bis heute.

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