Serie, Teil 2: Uwe Seelers „Vadder“, genannt „Old Erwin“, schuftete als Hafenarbeiter und spielte nur bei Schalke für Kohle

Der Mann machte nicht viele Worte, zeitlebens nicht. Mehr Sein als Schein, das war Erwin Seelers Motto. Hanseatisch eben. Dieses Prinzip galt während der Jahrzehnte als Ewerführer und Stauerviz (Vorarbeiter) im Hafen, als erfolgreicher Fußballspieler, vor allem jedoch als Familienvater. Hier wie dort nannten ihn Freunde schlicht „Vadder“. Seine Sprache war die des Volkes, am allerliebsten op Platt.

„Hier kümmt de Wiehnachtsmann“, teilte er seinen verdutzten HSV-Mitspielern in der Kriegszeit kurz und knapp mit – als er ihnen üppige Bratenstücke überreichte. „Irgendwo“ hatte Vadder eine Kuh organisiert, sie von einem Kumpel heimlich schlachten und portionieren lassen.

Anpacken war seine Sache. So wie bei einer weiteren Aktion kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit dem HSV bestritt Mannschaftskapitän Erwin Seeler ein Freundschaftsspiel beim FC Schalke 04 in Gelsenkirchen. Vereinbartes Honorar: zwei Eisenbahn-Waggons Kohle. Vadder höchstpersönlich schleppte seinen Mitspielern nach und nach jeweils mehrere Zentner des kostbaren Guts in deren Wohnungen. Als kleine Entschädigung wurde hier und dort ein „Lütter“ gereicht, ein Gläschen Köm.

Schließlich waren schon seine Vorfahren Männer aus echtem Schrot und Korn. Erwins Vater Friedrich arbeitete in einer Tischlerei im Arbeiterviertel Rothenburgsort in Hafennähe. Mit 65 Jahren wollte er vom Ruhestand nichts wissen, spuckte weiter in die Hände und malochte im Akkord ein Jahrzehnt weiter. Die Familie brauchte Brot. Und sie bekam es – auch in bitteren Zeiten.

Davon profitierten die Gäste von Friedrich Seeler, der an der Ausschläger Allee eine „Pieselei“ betrieb. So wurden damals jene kleinen Kneipen inmitten eines Wohnorts genannt, die als Informationsbörse, Nachbarschaftstreff und Versorgungsstätte eine enorme soziale Bedeutung hatten. Wer mochte, trank sein Bier und seine Kurzen in der Schankstube. Andere holten sich ihr Frischgezapftes in Mehrwegflaschen mit ploppendem Bügelverschluss nach Hause. Und ein Stück Mettwurst oder eine Schmalzstulle hatte Friedrich Seeler selbst in Notzeiten irgendwie immer an Bord.

Als Erwin Seeler am 29.April 1910 zur Welt kam, war Rothenburgsort quasi ein Dorf. Jeder kannte jeden. Proletarisches Selbstbewusstsein, sozialdemokratisches Denken und Solidarität innerhalb der Arbeiterschicht prägten auch den Sport. Erwin Seelers Geschwister ertüchtigten sich in Reihen der Freien Turnerschaft Hammerbrook-Rothenburgsort.

„Tüdelkram“, befand Erwin früh. Und wahrscheinlich würden wir alle die Seelers heutzutage gar nicht kennen, hätte sich Erwin Seeler nicht dem SC Lorbeer 06 angeschlossen.

15.000 Zuschauer feierten diesen Verein im Wirtschaftskrisenjahr 1929 als deutschen Bundesmeister des Arbeitersports. Einer der Helden hieß Erwin Seeler. Zwar gab es für dieses Meisterstück einen Wimpel und viel Schulterklopfen, materiellen Lohn indes nicht. Weil Geld für sportliche Leistungen im Arbeitersport verpönt war. Die Spieler mussten für ihre Fahrt von Rothenburgsort zum Kick in Richtung Eppendorf auf einem Pritschenwagen sogar eine Mark pro Mann bezahlen. Als Erwin Seeler zumindest um Erstattung dieser Ausgabe bat, wurde er von einem Funktionär barsch abgewiesen. Da half auch der Hinweis nicht, dass fünf der elf Fußballer arbeitslos waren.

Erwin Seeler war wie eine Eiche – die einige Male richtig schwer fiel. 1949 in Braunschweig erlitt er einen Wadenbeinbruch. Typisch „Old Erwin“, dass er nach dem Vorfall noch minutenlang weiterspielte. Erst dann humpelte der 39 Jahre atte Recke vom Rasen. Seine HSV-Bilanz konnte sich sehen lassen, nicht nur sportlich: 1939 und 1949 Nordmark- bzw. Hamburg-Meister, Meister der britischen Zone 1947 und 1948. Hinzu kamen mehrere Hamburger und Norddeutsche Meisterschaften.

48 Jahre arbeitete er im Hamburger Hafen; das war sein Revier. Anfangs musste er die Schuten noch durch die Fleete staken, also mit Stangen durch das niedrige Wasser bugsieren. Später arbeitete er als Ewerführer und Stauerviz. Im Dienste der Firma Gerd Buss war er für das Be- und Entladen der Schiffe zuständig. Vor Schichtbeginn ging es auf einer Barkasse vom Baumwall in den Freihafen.

Anny sprang von der Elbbrücke ins Wasser

Seine Anny Wolf lernte Erwin Seeler in jungen Jahren im Vereinsheim des SC Lorbeer 06 („Bei Brinkmann“) kennen. Anny war nicht nur Handballerin, sondern eine begnadete Schwimmerin. Auch sie wuchs in Rothenburgsort auf – ebenfalls in kargen Verhältnissen, aber von Mutter Luise wohlbehütet, deren erster Mann früh gestorben war. Anny Wolf war nicht nur eine exzellente Sportlerin, sondern auch eine mutige Frau. Es ist glaubhaft überliefert, dass sie einst von der Elbbrücke ins Wasser sprang.

Beider Sohn Dieter kam 1931 früher als geplant zur Welt, vor der Hochzeit von Anny und Erwin Seeler. Das war damals noch etwas Ungewöhnliches. Folglich wurde Dieter in Rothenburgsort geboren. Erst 1932 zog die junge Familie nach Eppendorf: An den Schnelsener Weg 16, dem heutigen Winzeldorfer Weg. Mit etwas Abstand wurden zwei weitere Kinder geboren: Gertrud, von allen bis heute ausschließlich „Purzel“ genannt, und letztlich Uwe, das Nesthäkchen. 1936 war das, drei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Bisweilen durfte Uwe seinen Vater später zur Arbeit begleiten. Für ihn waren es Ausflüge in eine faszinierende, andere Welt. Der Freihafen mit dem wuseligen Leben, den riesigen Schiffen, Matrosen aus aller Welt zogen den Jungen magisch an. Besonders angetan hatten es ihm die gewaltigen Kräne, die Ladung aus dem Bauch der Ozeanriesen hievten oder da platzierten. Uwe konnte sich daran nicht sattsehen.

Erwin Seeler besaß zeitlebens kein Auto und hatte auch keinen Führerschein gemacht. Der schwere Sturz, nach dem er nicht wieder richtig auf die Beine kam, ereignete sich Mitte der 90er-Jahre vor einem Linienbus. Dessen Tür hatte sich zu schnell geschlossen, sodass der 86-Jährige ins Straucheln kam und auf dem überfrorenen Fußweg stürzte. Mit einem Oberschenkelhalsbruch wurde er im Notfallwagen ins Krankenhaus gebracht. Seelisch durch die Einsamkeit nach dem Tod seiner Ehefrau Anny im Januar 1994 ohnehin angeknackst, kam nunmehr die körperliche Malaise hinzu. Doch auch jetzt jammerte er nicht.

In seinem Apartment mit direktem Anschluss an das Seniorenstift Kiebitzreihe konnte der 87-Jährige die letzten Tage seines Lebens in Ruhe verbringen. Hamburg hatte allen Grund zur Trauer. Mit „Old Erwin“ starb ein Stück Geschichte. Am 25.Juli 1997 nahm Hamburg in Ohlsdorf Abschied von einem Mann, der für so viele „Vadder“ war.

Morgen: Straßenfußball zwischen Trümmern