Vor 60 Jahren trug Uwe Seeler das erste Mal das Trikot mit dem Adler – der Start einer einmaligen Karriere. Und Auftakt unserer Serie über Hamburgs größten Fußballer.

60 Jahre ist es her, dass in Hamburg ein Ansturm erster Klasse begann: Anno 1954 traf Uwe Seeler, jüngster Sohn des Schutenführers Erwin und der Schwimmerin Anny, erstmals für die Ligamannschaft seines HSV – und erlebte sein Debüt in der deutschen Nationalmannschaft. Es folgten unvergessene Triumphe, Tore in Serie, bittere Niederlagen, vier Weltmeisterschaften und Volltreffer, die Fußballgeschichte schrieben. Nicht nur einmal drohte „Uns Uwe“ nach Verletzungen und Unfällen das Aus.

Diese siebenteilige Serie schildert einige Facetten vom Aufstieg eines Buttjes, der mit einem geflickten Stoffball zwischen Trümmern auf der Straße bolzte, zum Ehrenbürger und Idol wurde – immer mit der norddeutschen Heimat im Herzen. Noch viel mehr steht im neuen Buch „Uns Uwe“, das parallel erscheint. Teilweise bisher nicht veröffentlichte Fotos auch aus dem Privatalbum der Familie Seeler runden das Bild ab. Menschliche Ein- und Rückblenden gehören ebenso dazu wie ein Blick auf die Hansestadt im Laufe der Jahrzehnte.

Namhafte Zeitzeugen und Wegbegleiter haben mit persönlichen Beiträgen geholfen, das Bild einer Sportlegende abzurunden – von Angela Merkel über Helmut Schmidt bis Olaf Scholz, von Franz Beckenbauer bis Günter Netzer, von Gert „Charly“ Dörfel über Willi Schulz bis zu den alten Meistern Jochen Meinke und Horst Schnoor. Uwe Seelers Schwester „Purzel“ sowie seine frühere Lehrerin kommen auch ausführlich zu Wort.

Mit Frau Holzhauer aus Hamm und den Klassenkameraden von damals trifft sich Deutschlands Ehrenspielführer auch heute noch regelmäßig. Denn Treue durchwebt Seelers Leben wie ein roter Faden. Mehr als 65 Jahre ist er Mitglied seines HSV, 50 Jahre arbeitete er für eine Firma, mehr als ein halbes Jahrhundert führt er eine erfüllende Ehe, ebenso lange wohnt er im selben Haus. Zum privaten Glück seiner Großfamilie zählt ein Hattrick, der für ihn mehr Bedeutung hat als jedes noch so glorreiche Tor: Die drei Töchter wohnen aktuell mit ihren Familien in direkter Nachbarschaft. Ansonsten pfiff er auf Hâttric und die Ehrenpräsidentschaft des HSV, aber das ist ein anderes Kapitel.

Schmerzhafte Verluste wie der frühe Tod seines älteren Bruders oder seltene Eigentore außerhalb des Rasens haben an der von Grund auf positiven Einstellung nichts geändert. „Das Schönste ist es, normal zu sein“, pflegt er zu sagen. Dieses hanseatische Naturell, diese Bodenhaftung haben den Mann mit der Schuhgröße 42, einem tonnenschweren Fußabdruck im Volkspark und dem Elbsegler bald 80 Jahre begleitet – und stark gemacht. Nein, verbiegen ließ er sich nie, war lieber er selbst. Hochnäsigkeit ist ihm von jeher ein Fremdwort. Und Foulspielen können andere viel besser. Da mochten sie aus dem Ausland mit einem Vermögen locken: Uns Uwe blieb lieber to Huus. In Hamburg. Gerade auch wegen dieses erdverwachsenen Charakters sind Buch und Serie zeitlos aktuell.

Uwes Äquatortaufe mit Schwarzwälder Kirsch – und mächtig viel Brand

Im Juli 1954 besteht Uwe Seeler eine wichtige Prüfung. Aber anders als gedacht, nicht auf dem Rasen, sondern in einem Landgasthof im Schwarzwald. Zusammen mit seinem Offensivkollegen und Freund Klaus Stürmer darf der 17-Jährige den aus seiner Sicht sehr großen Hamburger SV ins Trainingslager im Südwesten begleiten. Dort spielt die Mannschaft während der Oberliga-Sommerpause auf den Dörfern.

Beseelt von ihrem ansehnlichen Kick bei diesen Freundschaftsspielen fühlen sich die beiden Youngster in der Erwachsenenwelt stark wie Bolle. „Bloß nicht kiebig werden“, mahnt Herbert Wojtkowiak, mit 32 Jahren einer der HSV-Senioren: „Sonst gibt’s was an die Rüßtüten.“ Einen an die Ohren, ist damit gemeint.

Auf geht’s zum fidelen Teamabend in eine Gastwirtschaft: Schlachtplatte mit Kassler, Grillspeck und Räucherwürsten. Um der schwer verdaulichen Sache Schwung zu geben, schleppen die Kellner Bier herbei. Sie haben alle Hände voll zu tun. Da sie in der Männerrunde nicht als Weicheier gelten möchten, langen auch Uwe Seeler und Klaus Stürmer ordentlich zu.

Kaum ist die Schlacht geschlagen, erhebt sich Herbert Wojtkowiak, um die beiden aus seiner Sicht nassforschen Neulinge offiziell im Kreis willkommen zu heißen. Prosit, hoch die Tassen. Er verdonnert das junge Duo, jeweils einen doppelten Schwarzwälder Kirsch hinter die Kiemen zu zwirbeln. Mit jedem. „Jetzt bloß nicht kneifen“, erinnert sich Seeler später an diese Art einer Äquatortaufe. „Nicht lang schnacken, Kopp in’ Nacken.“

Immer wieder. Bis nichts mehr geht. Von den Älteren gestützt, wanken die Novizen Richtung Mannschaftsquartier. Fern der Heimat schleichen die Recken an der Rezeption vorbei durch den dunklen Flur. Mitspieler Heinz Liese hat noch einen zweiten Jux bereit. „Jungs, hier ist Handcreme“, flüstert er aufmunternd. „Reibt euch kräftig ein. Tut euch gut.“ So geschieht es dann auch.

Seeler und Stürmer verleben in ihrem Doppelzimmer eine grauenhafte Nacht. Der Morgen danach wird noch schlimmer. Zu allem Überfluss ist die Bettwäsche schwarz, und auch an den Treppengeländern und Flurwänden des Hotels finden sich deutliche Spuren der Nacht. Kamerad Liese hatte keinesfalls Handlotion, sondern schwarze Schuhcreme gereicht. Es gibt also doppelt Grund, dass Uwe beim Frühstück im Speisesaal mit einem roten Bollerkopf auffällt. Die zwei jungen Wilden sind eingenordet. Willkommen im Klub!

Anstoß mit Sondergenehmigung für den lütten Uwe

Natürlich macht der Hotelchef Ärger. Trainer Günther Mahlmann, Boss ohne Trainerschein, verhindert mit hanseatischer Diplomatie einen sofortigen Rauswurf aus der Herberge. Ein tiefer Griff in die Mannschaftskasse lindert die Wut des Wirts. Uwe fasst einen Entschluss: „Nie wieder Schnaps!“ Er wird sich zeitlebens daran halten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen... Ein entscheidender Schritt Richtung Spitze wurde schon 1953 absolviert: Uwe Seeler, 16 Jahre jung, bestritt sein erstes Spiel in der Liga-Elf des Hamburger Sportvereins. Gegen Göttingen 05 ging’s in Freundschaft zur Sache. Am 15. August 1953 stieg dieser für Uwe große Moment. Mit einer Sondergenehmigung darf er als 17-Jähriger ein Jahr später sogar richtig in der Oberliga auflaufen.

1954 reist Uwe Seeler mit dem Zug zum Fifa-Jugendturnier im Westen der noch jungen Bundesrepublik. Zurück in Hamburg ist der Name Seeler in immer mehr Menschen Munde. Schlag auf Schlag geht’s weiter Richtung Jahreshöhepunkt, dem ersten Länderspiel. „Das neue Gesicht der Oberliga“, schreibt das Hamburger Abendblatt am 24. Juli 1954. In der Saison zuvor wären die Männer vom Rothenbaum fast abgestiegen (irgendwie kommt einem das heute bekannt vor...); Trainer Knöpfle musste nach fünf Jahren seine Mütze nehmen.

Zwischen 1954 und 1962 gewinnt der Club unter Trainer Günther Mahlmanns Regie acht Oberliga-Meisterschaften – und 1960 zusätzlich die Deutsche Meisterschaft. Vier Pokalsiege und zwei Deutsche Vizemeisterschaften runden die Erfolgspalette ab. Die „Zwillinge“, wie man Seeler und Stürmer nennt, sind die frischen Hoffnungsträger des Traditionsvereins.

Kurz nach dem Wunder von Bern kommt Seelers Länderspiel-Debüt

Am 29. August 1954 erzielt Uwe Seeler gegen den VfB Oldenburg sein erstes Oberliga-Tor. Beim Länderspiel gegen Frankreich am 16. Oktober 1954 in Hannover sitzt er auf der Ersatzbank. Die Verletzung eines Stammspielers jedoch macht den Weg frei. „Warmlaufen, Uwe!“, kommandiert Herberger knapp. In der 20. Minute ist es so weit: Deutschland-Premiere für den Hamburger Jung.

Sepp Herberger, bekleidet mit dem für ihn typischen schwarzen Trainingsanzug mit Reißverschluss und riesigem Bundesadler auf der linken Brust, legt nach dem Abpfiff seinen Arm auf die Schultern seines jüngsten Spielers. „Gut gemacht, fürs erste Mal, mein Junge“, lobt er. In der französischen Presse wird Uwe als „fliegende Kaffeekanne“ bezeichnet.

Nach dem Bankett am Maschsee fährt Uwe zusammen mit Klaus Stürmer und Jupp Posipal in dessen Auto noch nach Hamburg. Um 3 Uhr nachts trifft er in der Bismarckstraße 104 in Hoheluft ein. Am nächsten Morgen wartet die Arbeit bei Schier, Otten & Co. auf den Lehrling im dritten Ausbildungsjahr. Als er die Tür zur Mietwohnung aufschließt, geht in der Küche plötzlich das Licht an. Mutter Anny hat ausgeharrt, um ihr Nesthäkchen voller Stolz in die Arme zu schließen.

Es macht sich bezahlt, dass die Seelers von jeher auf dem Boden der Tatsachen ankern. So war es guter Ton in Rothenburgsort. Denn abseits der Elbbrücken haben die Seelers ihre Wurzeln.

Mehr dazu am Montag in Teil 2