Gerade gut situierte Stadtteile haben die Pflicht, Flüchtlingen ein Obdach zu geben
Sozial, so beschreibt es das Internetlexikon Wikipedia, ist, wer sich für andere Menschen interessiert, sich einfühlen kann, hilft, ohne nur an sich selbst zu denken. Unsozial dürfte dementsprechend sein und handeln, wem dies alles unwichtig ist. Einfühlungsvermögen, Interesse an fremden Menschen, Hilfsbereitschaft – all das scheint manchen Hamburgern auch in wohlsituierten Stadtteilen abhandenzukommen. Ob es viele sind oder ob sich wenige nur laut genug artikulieren können, ist hier nicht zu klären. Aber der Eindruck ist, als steige die Zahl der Klagen und Proteste gegen Sozialprojekte. Und mit ihr scheint der Bürgersinn in einer immer noch liberalen und sozialen Stadt zu sinken.
Anders sind die zahlreichen Klageschriften vor dem Verwaltungsgericht und der lautstark vorgetragene Protest kaum zu erklären. Erboste Harburger wehren sich gegen ein Sterbehospiz: In Würde die letzten Wochen des Lebens zu verbringen – bitte nicht in unserer Nachbarschaft, hieß es. Schließlich schmälere ein Hospiz den Wert der Grundstücke, lautete die Begründung des Widerstandes.
Jugendlichen aus komplizierten Verhältnissen eine Auszeit aus ihren Familien zu gönnen und sie in einem christlichen Wohnprojekt in Sasel unterzubringen – auch das war bei einigen Nachbarn unerwünscht. Gern gestritten wird – vor Gerichten, in Behörden – auch über Kinder. Mal wird versucht, eine Kita-Erweiterung zu verhindern, mal die Nutzung des Gartens oder des benachbarten Sportplatzes zu verbieten. Neuerdings geht es auch gern um die Unterbringung von Flüchtlingen. Gleich drei Anträge liegen derzeit bei Gericht vor, um Unterkünfte für Vertriebene beispielsweise aus Syrien zu verhindern.
Viele der anhängigen oder kürzlich entschiedenen Klagen stammen aus Stadtteilen wie Marienthal, Harvestehude, Sasel oder Lokstedt. Hier wohnen Menschen, die selbstbewusst auftreten, die in Anwohnerversammlungen auch öffentlich gut und sicher argumentieren und die keine große Scheu vor einem Rechtsstreit haben. Klagen aus Billstedt oder Proteste aus Wilhelmsburg sind eher die Ausnahme. Dabei sollte es, wenn überhaupt, umgekehrt sein.
Stadtteile, in denen vor allem sogenannte Besserverdienende wohnen, Stadtteile mit intakter Sozialstruktur statt staatlicher Sozialarbeit, mit funktionierender Nachbarschaft statt fehlender Empathie – sie und ihre Bewohner sollten in erster Linie Flüchtlinge aufnehmen. Denn diese Sozialstrukturen können es gut verkraften, wenn plötzlich auch einige Hundert Fremde mit teils schwieriger Biografie im Viertel leben.
Es ist ein Glück, in einem Stadtteil wie Harvestehude, Sasel oder Lokstedt wohnen zu können. Aus diesem Glück erwächst aber auch eine Verantwortung. Neben all den lautstarken Klägern drohen die vielen eher leisen Hamburger unterzugehen, die sich dieser Verantwortung bewusst sind und sich ihr stellen. Anwohner, die Kleidung sammeln für Flüchtlinge, Kinder, die Gleichaltrige einladen, mit ihnen zu spielen, oder deren Großeltern, die in die Unterkünfte gehen, um vorzulesen.
Kaum einer der Flüchtlinge dürfte seine Heimat gern verlassen haben. Viele von ihnen haben sich auf eine teilweise lebensgefährliche Flucht vor Krieg und Verfolgung in die Hände von Schleusern begeben, haben die Familie und alles Liebgewordene zurückgelassen. Dennoch dürfte bei Weitem nicht jeder von ihnen in Deutschland dauerhaft Asyl gewährt bekommen. Viele werden wohl wieder abgeschoben, andere freiwillig ausreisen, wenn sie wieder in ihrer Heimat leben können. Aber bis das so weit ist und solange diese Menschen hier leben, erwächst aus unserem Wohlstand die Verpflichtung, sie willkommen zu heißen. Auch an der Sophienterrasse in Harvestehude. Schließlich ist Hamburg eine soziale Stadt.