Kommissar Steffen Bläsing hat seine Bachelor-Arbeit über dieses Thema geschrieben und einen Ratgeber für Kollegen entwickelt. Man kann bei der Überbringung dieser Nachricht leicht viel falsch machen.

Hamburg. Ein Unfall in Wandsbek. Im Winter. Ein Mann stirbt. Er wurde nicht alt. „Dann kommt der Kollege in der Dämmerung zum Haus der Familie. Das Erste, was er sieht, sind die drei Kinderschlitten, die am Eingang stehen. Die Tür geht auf. Vor ihm steht eine junge Frau, mit einem Baby auf dem Arm. Und die anderen beiden Kinder umklammern ihre Beine. Und du trittst da als Polizei auf!“ Das seien die brutalsten Einsätze, sagt Steffen Bläsing. Die auf ewig im Gedächtnis bleiben.

„Wir müssen Ihnen leider mitteilen…“

Es ist keine Phrase, die man gern in die Länge zieht. Keine, die besonders betont wird. Es ist eine, die man ausspricht und sich zugleich wünscht, sie nicht benutzen zu müssen. Zwei Sekunden dauert es vom „L“ bei „Leider“ bis zum „n“ am Ende von „mitteilen“. Zwei Sekunden, die brutal sind, die alles verändern können, von jetzt auf gleich.

Jedes Jahr scheiden in Hamburg 17.000 Menschen aus dem Leben. Viele sterben unerwartet und nicht selten allein, ohne dass Angehörige in ihren letzten Momenten bei ihnen sind. Bei Verkehrsunfällen, durch Verbrechen, manchmal auch freiwillig. Sie verschwinden, ohne Abschied zu nehmen.

Jemand anderes muss den schweren Weg auf sich nehmen und die Nachricht vom Tod überbringen. Wer, das ist in einer Dienstvorschrift des Landes der Freien und Hansestadt Hamburg geregelt, der polizeilichen Dienstvorschrift 350. Angehörige seien „unverzüglich“ von der Polizei zu benachrichtigen, heißt es dort. Und auch das Wie ist klar verfasst: „Die Benachrichtigung ist dem Anlass angemessen“, unverzüglich, „ohne weitere Ermittlungen und grundsätzlich persönlich“, „in schonender Weise durchzuführen“.

Die Realität ist deutlich komplexer, als das Behördendeutsch erahnen lässt: „Du weißt nie, was dich erwartet. Wir assoziieren Trauer allgemein mit Weinen und dem Wunsch, sich zurückziehen zu wollen. Aber es kann auch ganz anders kommen. Die Angehörigen greifen dich an, reißen sich die Kleider vom Leib, schreien dich an, schließen sich ein, gehen in die Küche und nehmen ein Messer.“ Oder sie reagierten gar nicht, was nicht weniger verstörend ist.

Steffen Bläsing sitzt auf der Terrasse seines kleinen Reihenhauses unweit des Farmsener Bahnhofs. Die ungewöhnlich warme Septembersonne blendet. Die Augen des großen, kräftigen 32-Jährigen werden von einem Schattenzipfel verdeckt, den der breite Sonnenschirm wirft. Er liest: „Trauer ist die Emotion, durch die wir Abschied nehmen, Probleme der zerbrochenen Beziehung aufarbeiten und so viel als möglich von der Beziehung und von den Eigenheiten des Partners integrieren können, sodass wir mit neuem Selbst- und Weltverständnis weiterzuleben vermögen.“ Eine Analyse der renommierten Schweizer Psychologie-Professorin Verena Kast.

Bläsing, der Kriminalkommissar, Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG, hat sie in seiner Bachelor-Arbeit zitiert, einer umfassenden Abhandlung über eine der schwierigsten Aufgaben der Polizei: dem Überbringen von Todesnachrichten.

Die Schwierigkeit dieses amtlich festgesetzten Auftrags liegt nicht nur in der Tatsache, die maximal traurigste Nachricht überbringen zu müssen, sondern auch darin, dass jeder Streifenpolizist damit betraut werden könnte. In Hamburg gibt es dafür keine Spezialeinheit erfahrener Krisenmanager. In Hamburg trifft es den Beamten, der gerade Dienst hat. „Da kommt dann über Funk, Streifenwagen 38.1 fahr mal an die Wache. Hier wartet der nächste Einsatz. Und dann heißt es, überbring mal eine Todesnachricht“, sagt Bläsing. „Ja, und du denkst, da wird schon nichts dabei sein. Oder hoffst es zumindest.“

Steffen Bläsings Arbeit, Voraussetzung für seinen Aufstieg in den gehobenen Dienst, gibt überaus interessante Einblicke in die Polizeiarbeit. Interviews mit drei erfahrenen Kollegen hat er geführt. Eines der Ergebnisse der knapp 50 Seiten starken Arbeit: Zwei Stunden nur nimmt das Thema im Lehrplan angehender Polizisten ein. „Du wirst ins kalte Wasser geworfen. Es liegt in deiner Macht, was du daraus machst.“ Viele Polizisten beschäftigten sich mit dem Thema überhaupt erst dann, wenn der erste Einsatz bereits über Funk erteilt wurde.

Es ist ein Einsatz unter vielen. „Auch wenn es eine Aufgabe ist, die niemand gerne macht, muss sie doch erledigt werden“, sagt einer der von Bläsing Interviewten. Ein anderer: Bei aller Sensibilität handle es sich doch um „Routineeinsatz und dann wird in der Regel der freie Streifenwagen genommen, der zur Verfügung steht.“

Bläsings Fazit fällt dennoch positiv aus. Warum? An den Wachen werde sehr genau geschaut, welcher Beamte wie viel Erfahrung habe, um auch schwierige Einätze zu bewältigen, wenn etwa ein Kind zu Tode kam, schreibt Bläsing. Er hebt die Arbeit des Kriseninterventionsteams des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und der Seelsorger der Feuerwehr hervor, die den Polizisten vor Ort den Rücken stärken. Und er lobt die anschließende Betreuung der Angehörigen. Etwas, was er selbst schmerzlich vermisst hatte – damals vor 13 Jahren.

Als am Ostermontag 2001 sein Handy klingelt, fährt er auf der Autobahn 24 nach Hamburg. Neubrandenburg, die Heimatstadt, liegt hinter ihm. Der damals 19-Jährige ist in der Ausbildung zum Polizeimeister, steht ganz am Anfang. Der Anruf verändert sein Leben. Sein Vater ist mit 44 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. „Er war mein bester Kumpel. Wir haben alles zusammen gemacht“, sagt Bläsing. Seine Augen bleiben im Schatten versteckt.

Ein Freund des Vaters, der den Unfall mitansehen musste, überbringt die Nachricht, die auch dann noch nicht verstanden ist, als er sich auf sein Motorrad setzt und wieder fährt. Die Familie bleibt erschüttert zurück. „Das war’s. Wir hatten überhaupt keine Unterstützung. Wir mussten alles allein durchstehen.“ Die Polizei in Mecklenburg meldet sich nicht.

„In Hamburg haben wir die psychosoziale Nachsorge. Hier gibt es Leute, die sich um dich kümmern. Die bleiben auch mal drei, vier Stunden. Die können Antworten geben. Damals gab es keinen, der uns gesagt hat, jetzt wird mit Vater das und das gemacht.“ Die Schulter eines Polizisten habe gefehlt, der auch für einen da sein sollte, und nicht nur beim Falschparken mahnend den Finger hebt.

Warum sich die Polizei damals nicht meldete? Bläsing hat seine Kollegen nie gefragt. „Früher habe ich mir viele Gründe überlegt, warum das nicht lief. Heute frage ich mich: Was ist da für eine Scheiße gelaufen?“

Einfach war das Schreiben der Bachelor-Arbeit nicht. „Ich habe lange gebraucht.“ Es gab Phasen, in denen er nicht mehr wollte. Alte Wunden rissen auf. „Ich musste dann mal ein paar Wochen raus. Mein Gemütszustand geht bei dem Thema auch so runter. Irgendwann schafft man das nicht mehr.“

Doch er packt es. Und er entwirft nicht nur knapp 50 maschinengeschriebene Seiten, die in der Bibliothek der Polizeiakademie ausliegen, sondern auch einen Flyer. Es ist das eigentliche Ergebnis seiner Bemühungen. Die Polizei hat ihn übernommen, an den Wachen verteilt. „Ich hoffe, dass die Kollegen mit dem Flyer entspannter an solche Einsätze gehen.“

Es ist ein Wegweiser durch schwieriges Terrain: welche Informationen im Vorfeld über den Verstorbenen eingeholt, welche Kardinalfehler vermieden, wie Angehörige begrüßt und verabschiedet werden sollten.

Eine traurige Gewissheit kann auch Bläsings Flyer seinen Kollegen nicht nehmen. „In dem Moment, wenn ich einer Person eine Todesnachricht überbringe, mache ich was kaputt!“, sagt ein Polizist. „Ich zerstöre eine Welt.“