Die Spuren der Franzosenzeit sieht man in St. Petri bis heute.
Altstadt. Hier stimmt was nicht. Das wird jedem sofort klar, der die Sandsteinpfeiler in St. Petri einmal genauer betrachtet. An mehreren Stellen in etwa einem Meter Höhe sind zackige, helle Linien zu sehen. In der Tat handelt es sich hier um äußerst denkwürdige Überbleibsel aus der Vergangenheit, die auf denkwürdige Art entstanden sind und an ein denkwürdiges Kapitel in der Hamburger Geschichte erinnern. Archäologe Frank Lehmann sagt sehr deutlich, um was es sich bei den hellen Stellen handelt: „Das ist Pferdepisse.“
Pferde-Urin? Um das zu erklären, muss Lehmann etwas ausholen. Die Geschichte spielt in der Franzosenzeit, die begann, als Napoleon I. (1769–1821) Hamburg am 19. November 1806 besetzen ließ. Zwei Tage später gab er die „Kontinentalsperre“ gegen England bekannt: Die Franzosen verboten allen europäischen Staaten, mit Großbritannien Handel zu treiben. Für die Handelsmetropole Hamburg eine Katastrophe – viele Unternehmen mussten Insolvenz anmelden, Armut breitete sich aus. Die Bewohner, die in der Stadt blieben (viele waren gegangen), wurden mit Sondersteuern und Zwangseinquartierungen belastet.
Am 1. Januar 1811 wurde Hamburg Teil des französischen Kaiserreichs, es gehörte nun zum „Département des Bouches de l'Elbe“ (Departement der Elbmündung). Das brachte, zumindest theoretisch, den Hamburgern französisches Recht und deutlich mehr Bürgerrechte. Im Frühjahr 1813 änderte sich alles: Hamburg wurde durch die Truppen des russischen Generals Tettenborn befreit. Aber schon am 28.Mai rückten sie kampflos ab, und die verhassten französischen Besatzer kamen zurück. Erneut litt die Bevölkerung, die unter Marschall d'Avoût helfen sollte, die Stadt zur Festung auszubauen. Marschall Louis-Nicolas d'Avoût, genannt Davoût (1770–1823), wurde der „Robespierre von Hamburg“ genannt.
Was außerhalb der Mauern stand, wurde abgerissen, um dem Feind die Möglichkeit zu nehmen, sich zu verbergen. Außerdem mussten die „untreuen“ Hanseaten 48 Millionen Franc Strafe zahlen. Damit nicht genug: Auch die Kirchen – mit Ausnahme der Michaeliskirche – wurden beschlagnahmt und zu Pferdeställen umgewandelt. Das erklärt, wie Urin an die Mauern kommt. „Weil die Exkremente so scharf sind, entstanden die hellen Spuren in den Mauern“, erklärt Frank Lehmann.
Die Bedingungen für die Bevölkerung verschlechterten sich zusehends. Die 40.000 Soldaten hatten Hunger, wollten Nahrung, und die war ohnehin knapp. Wieder verließen Tausende Menschen die Stadt – weil ein Erlass vorgab, dass gehen müsse, wer keinen Vorrat an Lebensmitteln vorweisen könne. Ausgerechnet an Heiligabend wurden die Wohnungen überprüft. Diejenigen, die nicht genug hatten, trieb man aus der Stadt. Bis zu 30.000 sollen es gewesen sein. Die Menschen waren hungrig und heimatlos – viele wurden in Altona, Lübeck oder Bremen aufgenommen, doch viele kamen auch um.
Die Wende kam erst im Frühjahr 1814: Die Alliierten eroberten Paris, und damit hatte auch die Besatzung in Hamburg ein Ende. Der eiserne Marschall, 25.000 Soldaten und 5000 Pferde verließen die Stadt. Die Hamburger feierten und nahmen ihre Kirchen wieder in Besitz. Die Reste der Exkremente ließen sich aber bis heute nicht entfernen.