Ming-Chu Yu und ihre Familie aus China gehörten zu den Pionieren als sie in Hamburg ein Restaurant eröffneten. Heute gibt es insgesamt 500 Unternehmen aus dem Reich der Mitte in der Hansestadt.
Hamburg. Es ist ein windiger Tag im Januar 1957, als ein Frachter aus China im Hamburger Hafen einfährt. Die Fenster der Häuser am Ufer sind blind, in diesem extrem kalten Winter kleben überall Eisblumen an den Scheiben, trotz Ofenheizung. Eisbrecher bahnen sich auf der Elbe den Weg für das Schiff. Eine Familie aus Yangzhou ist an Bord. Die kleine Ming-Chu Yu ist gerade mal ein Jahr alt, als sie nach Deutschland kommt. Es ist ein ungemütlicher Empfang in der neuen Heimat, doch das Ziel ihrer Eltern steht fest: Sie wollen die chinesische Küche nach Deutschland bringen.
„Daheim hatten sich meine Eltern nicht an die Propaganda gewöhnen können, mit der wir auf das kommunistische Denken eingeschworen werden sollten“, sagt Ming-Chu Yu. Die Asiatin erinnert sich dunkel an den Beginn ihres Lebens in Hamburg, der Stadt, in der sie jetzt bereits seit mehr als 50 Jahren lebt. Heute ist Niendorf ihre Heimat, sie ist ihr liebgeworden, auch wenn der Neuanfang für die Familie damals nicht ganz leicht war.
Die gesellschaftlichen Umbrüche in der wenige Jahre jungen Volksrepublik treiben damals etliche Chinesen ins Ausland. Während Deutschland mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg beschäftigt ist, herrscht im Reich der Mitte das Diktat der Partei. Schon damals beginnen die Kader, sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Korruption in Behörden und Privilegien für die Beamten sind an der Tagesordnung. Sie stehen im Widerspruch zur herrschenden Ideologie, den Moralpredigten. Das Volk begehrt auf. Die Bauern wehren sich gegen die Kollektive, Arbeiter kritisieren die Lohnsysteme, Intellektuelle beklagen den eingeschränkten Zugang zu ausländischer Literatur. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem Kurs von Mao Zedong nimmt zu.
„Als sich dann für meine Eltern die Möglichkeit ergeben hat, nach Deutschland zu kommen, haben sie sich entschlossen, die Heimat zu verlassen“, sagt Ming-Chu Yu. Die Chancen stehen nicht schlecht: Ihr Vater Fung Cheung Hing ist Koch, seine Spezialitäten wie Karpfen aus dem Tontopf werden zu Hause von Geschäftsleuten und Bankern geschätzt. In Deutschland besetzt er mit seinem Können eine Nische in der Gastronomie und gehört bald zu den Pionieren der fernöstlichen Restaurants im Westen. Seine Erfolgsgeschichte beginnt im Restaurant Tun Haung an den Colonnaden. Dort verwöhnt Fung Cheung Hing die Gäste in gehobenem Ambiente mit Pekingente und Dim-Sum. „Vorher gab es praktisch nur kleine Garküchen von asiatischen Seeleuten in St. Pauli“, erinnert sich Ming-Chu Yu an die Anfänge.
Das multikulturelle Leben in Hamburg beschränkt sich damals auf den Hafen, wo ausländische Schiffsbesatzungen immer wieder einige Tage an Land verbringen. In der Schule ist Ming-Chu Yu das einzige exotisch aussehende Kind. „Wir hatten ja noch keine Türken in der Klasse“, sagt die heute 59-Jährige. Auch ihre Mutter wechselt schnell von chinesischen Kleidern mit den langen Seitenschlitzen auf ein westliches Outfit, damit sich nicht so viele Leute nach ihr umdrehen.
Die Familie bereitet damals auch etlichen Bekannten und Verwandten den Weg nach Deutschland. Ihre Wohnung in der ABC-Straße wird zum Anlaufpunkt für Dutzende Köche, die aus der Volksrepublik hier ankommen. Es wird getafelt, gesungen und erzählt. „Wir bildeten in Hamburg so etwas wie die Keimzelle der deutschen China-Restaurants“, erinnert sich Ming-Chu Yu an die turbulente Zeit. Das Bild der Asiaten in Deutschland wird in diesen Jahren sogar zum Klischee: „Sind eigentlich alle Chinesen Köche?“, fragen die Hamburger. Ming-Chu Yu’s Familie eröffnet in den 60er-Jahren das erste eigene Restaurant Wintergarten am Georgsplatz, 1983 übernimmt der Vater auch ein Lokal auf Sylt.
Dabei war das Einleben in der Fremde nicht immer einfach. „Früher saßen wir zwischen den Stühlen“, sagt Ming-Chu Yu. Die Familie fühlt sich heimatlos, hat keine Pässe. Es gibt keine diplomatischen Vertretungen, die sich für ihr Schicksal interessieren. Nicht nur das: Die Eltern dürfen während der Kulturrevolution kein Geld nach Hause schicken, müssen den Kontakt zu den Verwandten abbrechen. „Wir hätten auch nicht zurückkehren dürfen“, sagt Ming-Chu Yu. Inzwischen ist sie stolz auf ihre Wurzeln: „China ist so stark und reich, und man ist hier sogar abhängig von diesem wachsenden Einfluss“, sagt sie. „Ich bin stolz, auch wenn ich vielleicht nicht immer mit der Partei zufrieden bin.“
Als junge Frau macht Ming-Chu Yu erste gute Erfahrungen mit ihrer Heimat, es zeichnet sich ein Wandel ab. Nachdem sich China Ende der 70er-Jahre öffnet, kommt sie zum ersten Mal in ihr Geburtsland. Sie studiert in Hamburg Sinologie und reist mit Kommilitonen nach Peking. „Dort erlebte ich eine tolle Aufbruchstimmung, es war sehr liberal.“ Das Leben ist einfach, die Menschen müssen sich Reis und Öl mit Lebensmittelmarken besorgen. Aber in der Gesellschaft dominiert der Optimismus. Schon damals keimt die Hoffnung, das Land könne in 20 Jahren die USA überholen. „Wir Auslandsstudenten haben uns darüber noch halb totgelacht“, sagt Ming-Chu Yu.
Aus dem festen Glauben der Chinesen an eine bessere Zukunft ist heute Realität geworden. Ihre Heimat hat in 30 Jahren einen immensen Aufschwung genommen. Daimler oder Audi verkaufen in der Volksrepublik mehr Autos als in Nordamerika. China verfügt über Investitionsfonds, aus denen 300 Milliarden Dollar nach Europa und Nordamerika fließen. Die Asiaten werden längst nicht mehr belächelt. Der Westen passt sich sogar eher dem Osten an: Zwar betrachten westliche Beobachter Entwicklungen in Sachen Menschenrechte oder Umweltverschmutzung in China kritisch. Unruhen wie derzeit bei den Protesten in Hongkong gegen die Pekinger Regierung werden in Wirtschaftskreisen aber meist totgeschwiegen, um die Beziehungen zum fernen Osten nicht zu belasten.
Auch die Zeiten, als nur Köche nach Deutschland kamen, sind lange vorbei. Mehr als 500 chinesische Unternehmen sind inzwischen im Hamburger Handelsregister eingetragen. Die Joyou Group produziert und verkauft unter eigener Marke Wasserhähne und ist mit einem Stammkapital von zehn Millionen Euro die größte bisher getätigte Einzelinvestition in der Hansestadt. Die COSCO Container Lines Shanghai führt von Hamburg aus ihre Europa-Geschäfte. Die Logistik-Zentrale im Hafen ist zuständig für mehr als 40 Büros und Niederlassungen in der Region. Die Baosteel Europe GmbH ist Tochter eines chinesischen Stahlkonzerns und verantwortet am Sitz in Hamburg einen Umsatz von 500 Millionen Dollar. China ist inzwischen zum zweitwichtigsten Handelspartner der Hansestadt aufgestiegen. Das Handelsvolumen zwischen China und Hamburg erreichte 2012 einen Wert von 11,4 Milliarden Euro, das entspricht einem Wachstum von 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Aus den exotischen Neulingen in der Gastronomie ist ebenfalls eine feste Größe geworden: Allein in Hamburg bieten mehr als 100 Restaurants Spezialitäten aus Kanton oder Peking an. Ming-Chu Yu betreibt mit ihrer Familie zwei Restaurants, das Suzy Wong in Pöseldorf und das Han Yang in Niendorf. Zudem sorgt sie als Vorsitzende der Fachabteilung chinesische Gastronomie im Branchenverband Dehoga dafür, dass die Tradition ihrer Branche fortgeführt wird: Sie setzt sich dafür ein, dass chinesische Köche nicht nur wenige Jahre in Deutschland arbeiten dürfen und dann in die Volksrepublik zurückkehren müssen, wie es Verordnungen derzeit vorsehen. „Diese Regelung macht unserer Branche das Leben sehr schwer“, sagt die Mutter von drei Kindern. Schließlich fehlt den einreisenden Köchen damit jede Perspektive, sich selbstständig machen zu können. Anders als bei Ming-Chu Yu’s Vater, der mit seinem Engagement in Deutschland die Tradition der chinesischen Küche mit begründete.