Professor Hermann Reichenspurner gehört zu den bekanntesten Medizinern Hamburgs. Wenn er am Herzen operiert, läuft Klassik. Er kommt wie sein Partner John Neumeier aus einer musikalischen Familie.

Hamburg. Der Empfang am Universitären Herzzentrum des UKE ist sehr freundlich, schnell wird der Weg durch die langen Flure gewiesen. Büros, OP-Säle für die Herzoperationen und Herzkatheder-Labore reihen sich aneinander. In allen wird rund um die Uhr gearbeitet. Die Wartezimmer sind stets voll mit Patienten. Der ärztliche Leiter, Prof. Hermann Reichenspurner, findet zum Glück für das Foto ein freies Herzkatheder-Labor. Ein Gespräch über alte Hasen, Sopranstimmen und die Jungfrau von Orleans.

Hamburger Abendblatt: Wie oft haben Sie bis jetzt am offenen Herzen operiert?

Hermann Reichenspurner: Das liegt so zwischen 3000 und 4000 Herzoperationen, wo ich selbst maßgeblich mit beteiligt war.

Kann ich denn damit rechnen, dass ich auch wirklich von Chef operiert werde?

Reichenspurner: Den Hauptteil der Operation mache ich tatsächlich in den meisten Fällen selber. Sei es eine Bypass-Anlage oder eine Herzklappenreparatur. Ich bin aber umgeben von sehr guten und kompetenten Mitarbeitern. Man muss den Brustkorb der Patienten ja erst Mal öffnen und die Herz-Lungen Maschine anschließen. Da wird mir geholfen. Das bekomme ich zeitlich sonst gar nicht hin.

Wie oft darf in der Woche darf ein Arzt operieren?

Reichenspurner: Er operiert eigentlich ein- bis zwei Fälle am Tag und das fünf Tage in der Woche.

Kann man sich dann noch konzentrieren?

Reichenspurner: Auf jeden Fall. Sie müssen sich ja für eine Herzoperation maximal konzentrieren. So eine OP dauert drei bis vier Stunden. Der Chirurg assistiert aber danach auch bei einem weiteren Fall. Und den Nächsten operiert er dann wieder selbst.

Wie geben Sie genau Ihre OP-Künste an die anderen Kollegen weiter?

Reichenspurner: Die Weiterbildung ist bei uns ein großes Thema. Wir haben in der Endausbildung der letzten zwei Facharzt-Jahre immer zwei bis drei Kollegen parallel, die von uns auch wirklich ausgebildet werden.

Was kann der junge Arzt vom großen Chef lernen?

Reichenspurner: Das wichtigste, was er bei mir lernen würde: Der Patient muss im Vordergrund stehen und nicht die Krankheit.

Denken Sie dabei homöopathisch?

Reichenspurner: Nicht so sehr, mehr menschlich. Wir haben es mit Menschen zu tun und nicht mit Krankheiten. Das ist der entscheidende Unterschied hier bei und im Herzzentrum des UKE.

Woher kommt Ihre menschliche Einstellung?

Reichenspurner: Da spielt die Kinderstube und die Erziehung eine Rolle. Ich habe aber auch mehrere große Lehrmeister gehabt. Sowohl Bruno Reichart in München und in Südafrika und Bruce Reitz in Amerika. Und dann noch Thomas Meinertz, ein großer Kardiologe hier in Hamburg.

Wie erkennen Sie als „alter Hase“, dass ein junger Chirurg Talent hat?

Reichenspurner: Das sieht man schon nach einer gewissen Zeit. Professor Shumway von der Universität Stanford hat immer gesagt: „Jeder Pavian kann Herzchirurg werden“. Es ist aber nicht ganz so extrem. Ich habe viele Kollegen, wo man am Anfang dachte, was da wohl so daraus wird – und die sind dann sehr gute und sorgfältige Chirurgen geworden. Es gibt aber welche, wo ich sage, die sind mit dem Skalpell in der Hand auf die Welt gekommen. Die gibt es auch.

Sehen Sie Unterschiede beim Operieren zwischen Mann und Frau?

Reichenspurner: Wir machen sehr gute Erfahrungen mir Frauen in der Chirurgie. Sie sind extrem sorgfältig und gewissenhaft und zeigen weniger Hybris als die Männer – die sagen, ja es wird schon alles gut. Frauen sind da skeptischer.

Sind Frauen also ein Vorteil in der Chirurgie?

Reichenspurner: Ja, aber man muss aufpassen, dass Sorgfalt nicht ausartet in zu langen Operationszeiten. Da muss man einen goldenen Mittelweg finden. Wir haben aber sehr kompetente Frauen in unserem Team.

Sind Männer risikobereiter als Frauen?

Reichenspurner: Ja, das glaube ich insgesamt schon. Das sind zumindest meine Erfahrungen aus der Herzchirurgie.

Wie viele Frauen operieren bei Ihnen?

Reichenspurner: Selbstständig operieren bei mir zwei Frauen, die das auch sehr gut machen.

Läuft in Ihrem Herzzentrum bei Operationen auch Musik?

Reichenspurner: Grundsätzlich ja, weil Musik aus dem OP die Spannung rausnimmt. Ich habe als Student in Kliniken die Erfahrung gemacht, dass bei den Operationen eine extreme Anspannung vorhanden war. Der Chef war nervös und hatte geschimpft, wenn er mal was gefragt wurde. Diese Anspannung kann man durch die Musik wegnehmen.

Was für Musik wir in Ihren OP-Sälen gespielt?

Reichenspurner: Für mich ist es die klassische Musik. Gehen Sie in den Nachbarsaal, da hören sie von Country-Western bis Rock alles.

Wer entscheidet, was gespielt wird?

Reichenspurner: Eindeutig der Operateur. Will er etwas Ausgefallenes spielen, dann muss er die Musik schon mitbringen, so eine große Auswahl haben wir hier nicht. Für mich genügt ja meistens NDR-Kultur oder Klassik-Radio.

Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf?

Reichenspurner: Die Dankbarkeit der Patienten. Dass man die Möglichkeit hat, Menschen zu helfen. Das ist der Grund, warum ich auch nie in die Administration gegangen bin. Mir sind mehrfach Angebote auf den Tisch gekommen, große Kliniken zu leiten. Man ist dann aber raus aus der Medizin. Das kann ich mir derzeit nicht vorstellen.

Was war die Initialzündung um Arzt zu werden?

Reichenspurner: Eine Zündung war damals die erste Herztransplantation von Prof. Christiaan Barnard in Südafrika, die ich im Fernsehen gesehen habe. Ich dachte, wow, wie kann man so etwas machen! Das hat mich berührt. Als 15- oder 16-Jähriger habe ich zu meinen Eltern gesagt, dass ich in den Ferien mal in einem Krankenhaus arbeiten wollte. Das hat geklappt.

Muss man eine Art Berufung spüren?

Reichenspurner: Berufung weniger. Ganz wichtig ist der Sozialaspekt. Nicht nach dem Motto, ich studiere Medizin, damit ich später einen einkommenssicheren Beruf habe – sondern es muss die Kombination sein, Medizin zu studieren und damit Menschen helfen zu wollen.

Sie haben bis zum Stimmbruch an der Bayrischen Staatsoper gesungen. Kommt daher Ihre Liebe zur Oper und zum Ballett?

Reichenspurner: Ja, ich war da im Kinderchor. Ich hatte quasi eine Sopranstimme. Ich war da sechs oder sieben Jahre alt. Wir haben „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt und sind dann immer zu unseren Auftritten gelaufen. Ich hatte damals mit Oper und Ballett nicht viel am Hut.

Vielleicht kam es durch Ihre Eltern?

Reichenspurner: Ich komme aus einer Familie, wo der Großvater Opernsänger und meine Mutter eine sehr gute Pianistin war. Das Gefühl für die Musik war schon da. Meine Eltern hatten ein Opern-Abo. Mein Vater war nicht so Opern-affin. So hat mich meine Mutter mit zwölf oder dreizehn Jahren in die Oper und das Ballett mitgenommen. So hat alles angefangen.

Wer ist Ihr Lieblings-Opernkomponist?

Reichenspurner: Johann Sebastian Bach, ohne Zweifel. Es gibt kaum etwas von Bach, was mir nicht gefällt. Das ist so ein großartiger omnipotenter Komponist. Seine Sinfonien und Konzerte – aber vor allem auch die sakrale Musik. Die ist unheimlich bewegend. Das Spektrum von diesem Komponisten ist einfach unglaublich.

Der weltberühmte Ballett-Choreograf, Prof. John Neumeier, ist Ihr Lebenspartner. Ist das so richtig formuliert?

Reichenspurner: Ja, das kann man so sagen.

Was wäre denn falsch formuliert?

Reichenspurner: Wir wohnen zum Beispiel nicht zusammen. Wir leben zwar ganz nah beieinander. Uns trennen fünf Minuten Fußweg. Aber John lebt ja in einem Museum.

Wieso das?

Reichenspurner: Er hat sich die größte private Ballettkunst-Sammlung der Welt geschaffen. Da lebt er drin wie so ein „Live-in Artist“, was sehr beeindruckend ist. Ich bin da gerne und verbringe viel Zeit. Ich könnte da aber nicht leben. Es ist seine Welt und nicht meine Welt.

Der Herzprofessor und der Choreograf. Inspirieren Sie sich gegenseitig?

Reichenspurner: Die Inspiration ist auf beiden Seiten da. Es gibt auch viel Dinge, die unsere beiden Professionen verbindet.

Was genau?

Reichenspurner: Das eine ist die Begeisterung und der Enthusiasmus und die Hingabe; ich mache bedingungslos meinen Job, egal ob nachts um drei Uhr oder am Wochenende. Und dann ist da die Perfektion. Da sind unsere Jobs relativ nah beieinander.

Was würde passieren, wenn Sie Ihre Jobs tauschen würden?

Reichenspurner: Das wäre sicher chaotisch. Zum einen würde ich John nie in einen OP bringen. Da würde er schon vorher auf dem Gang ohnmächtig werden. Ich bin allenfalls ein passabler Gesellschaftstänzer. Somit wäre ich für die Ballett-Compagnie außer als Arzt, der sie auf Tourneen ab und zu begleitet, ziemlich wertlos.

Welches Ballett würden Sie gerne neu choreografieren?

Reichenspurner: Es gibt sicher Geschichten, wo man denkt, die sind faszinierend umzusetzen. John und ich haben mal über Die Jungfrau von Orleans gesprochen. Über sie gibt es kein abendfüllendes Ballett. Das wäre eine interessante Aufgabe!

Waren Sie nicht auch professioneller Military-Reiter?

Reichenspurner: Ja, absolut. Man muss aber ehrlicher Weise sagen, der Berufswunsch Reitlehrer war, als ich 15 Jahre alt war, schon wieder weg.

Üben Sie Ihr Hobby Reiten heute noch aus?

Reichenspurner: Ab und zu. Nicht so viel, wie es sein könnte. Es gibt nichts Schöneres für mich, als wenn ich über Weihnachten, wo ich ein paar Tage in Südafrika verbringe, meinen Freund Andreas Jacobs treffe. Der hat dort eine Pferdefarm. Dann reiten wir aus über die Steppen von Südafrika. Das ist ein Traum.

Wenn Sie am offenen Herzen operieren, fühlen sie dann nicht etwas vom Lieben Gott?

Reichenspurner: Das Gefühl kam mir nie. Wir haben da eine wichtige Funktion, wenn wir so eine Herzoperation machen, die natürlich für das Leben des Patienten entscheidend ist. Ich würde eher sagen, die Fähigkeit, die wir haben – und das sag ich mal als gläubiger Mensch – ist gottgegeben. Aber letztendlich sind wir nicht Herr über Alles. Wir haben immer wieder Situationen, wo wir denken, Mensch, wir haben alles richtig gemacht und es geht trotzdem nicht gut. Wir haben andere Situationen, wo wir denken, oh, oh, wird das gut gehen – und es geht gut. Da weiß ich ganz genau, dass ist nicht nur chirurgisches Können, sondern ist auch ein Punkt wie Fortüne, Glück, Segen, what ever mit dabei, das es gut geht.

Sind Sie gläubig?

Reichenspurner: Absolut.

Kommt es vor, dass man vor bestimmten schweren Herzoperationen innerlich betet?

Reichenspurner: Das kann passieren und ist vorgekommen.

Was denken Sie dann?

Reichenspurner: Beten heißt ja nicht, dass man zehn Vater Unser runter rasselt. Sondern man ersucht um Hilfe.

Wie oft passiert das bei Ihnen im medizinischen Allltag?

Reichenspurner: Nicht so oft, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich bin zwar ein gläubiger Mensch, aber ich denke, dass man mit seiner vernünftigen Einstellung zur Religiosität den Segen bei einer Operation hoffentlich sowieso hat.

Norbert Vojta ist Journalist und Honorarprofessor an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.