Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert ein schärferes Vorgehen gegen Russland, will aber weiter mit Putin sprechen. Zudem erwartet der SPD-Politiker höhere Energiepreise.
Hamburg. Die Nato sucht eine militärische Antwort auf Russlands Präsidenten, in der Europäischen Union (EU) wird derzeit um neue Wirtschaftssanktionen gegen Moskau wegen der Ukraine-Krise gerungen. Martin Schulz (SPD), der deutsche Präsident des EU-Parlaments, plädiert für eine diplomatische Lösung des Konflikts.
Hamburger Abendblatt: Mit der Krise in der Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Eine große Niederlage für die EU als friedenstiftendes Projekt?
Martin Schulz: Das ist keine Niederlage für die EU. Weil es sie gibt, kann Krieg in ihrem Inneren gebannt werden. Krieg gibt es dort, wo die Philosophie von der Stärke des Rechts, wie sie in der EU verfolgt wird, ersetzt wird durch die Philosophie vom Recht des Stärkeren. Diese Linie vertritt gerade Präsident Putin.
Aber der Krieg findet am Rande der EU statt, und die baltischen Staaten sowie Polen sind sehr beunruhigt.
Schulz: Das kann ich gut verstehen. Deshalb muss man der russischen Führung mit allen politischen und diplomatischen Mitteln klar machen, dass eine gewaltsame Grenzverschiebung in Europa inakzeptabel ist. Schon jetzt treffen unsere Sanktionen die russische Wirtschaft. Und zweitens wird das probateste Mittel der internationalen Diplomatie angewendet, nämlich die Suche nach gemeinsamen Interessen.
Welche gemeinsamen Interessen haben Russland und Europa?
Schulz: Europa braucht eine sichere Energieversorgung, und Russland braucht sichere Deviseneinnahmen sowie europäische Direktinvestitionen zur Entwicklung der Infrastruktur in diesem riesigen Land. Investitionen deutscher Firmen in Russland sichern auch Arbeitsplätze bei uns. Und russische Firmen wollen bei uns investieren und Gewinne machen, die sie dann in ihrem Land reinvestieren. Deshalb ist es wichtig, dass der Gesprächsfaden nicht reißt und dass wir immer wieder versuchen, mit diplomatischen Mitteln eine Lösung zu finden. Säbelrasseln hilft nicht!
Die EU berät wieder über Sanktionen. Wie ernst nimmt Putin die EU noch?
Schulz: Ich denke, dass Putin die EU sehr ernst nimmt. Denn die Entschlossenheit der EU, ökonomisch zu antworten, ist groß. Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs sind bereit, ihren eigenen Völkern zu sagen, dass verschärfte Sanktionen jetzt umgesetzt werden und auch Folgen für uns haben können: zum Beispiel verlangsamtes Wirtschaftswachstum, niedriges Handelsvolumen, vielleicht höhere Energiepreise. Aber für Russland sind die Sanktionen weitaus schmerzhafter und bin ich fest davon überzeugt, dass es eine politische Lösung des Konflikts geben wird.
Wie einig ist die EU sich im Vorgehen gegen Russland? Polen darf keine Äpfel mehr nach Russland liefern, auch der Hamburger Hafen verspürt schon die Auswirkungen der eingeschränkten Handelsbeziehungen.
Schulz: Wenn die Europäer wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, werden wir die verkraften. Der Satz von Bertolt Brecht ‚Erst kommt das Fressen, dann die Moral‘ ist zwar ein verständlicher, natürlicher Reflex, darf aber nicht die Maxime des gesamten Handelns sein. Wenn wir solche Aggressionen auf unserem Kontinent unbeantwortet lassen, schadet uns das auch.
Gibt es noch Chancen für die Diplomatie?
Schulz: Ja, immer. Wir brauchen Russland zur Lösung anderer Konflikte, etwa mit dem Iran oder Syrien. Der Dialog mit Russland muss geführt werden. Aber man darf einer Großmacht nicht durchgehen lassen, dass sie ihre Grenzen zu Ungunsten eines anderen Landes verschieben will. Das ist neu nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und wir müssen den Russen ganz klar machen, dass die EU und die USA es nicht zulassen würden, wenn Moskau das mit den baltischen Staaten versuchen würde.
Ist die EU nur gemeinsam mit den USA stark?
Schulz: Ich erkenne im Verhalten der EU und der USA in Sachen Ukraine keinen Unterschied.
Deutschland will der ukrainischen Armee medizinische Ausrüstung, Feldlazaretten und Schutzwesten liefern, hat jetzt auch verwundete ukrainische Soldaten in Deutschland aufgenommen. Passiert das in Absprache mit der EU?
Schulz: Solche humanitären Hilfsleistungen werden untereinander abgestimmt, das ist völlig richtig so.
Es wird auch Hilfe aus Berlin für die Kurden im Kampf gegen die IS im Nordirak geben. Wie steht die EU zu den deutschen Waffenlieferungen?
Schulz: Diese Fragen diskutieren andere EU-Länder auch. Da ist Deutschland keine Ausnahme.
Die Krisen im Irak und in Syrien sowie die seit langem schwierige Lage in Afrika bringen immer mehr Flüchtlinge nach Europa. Die EU reagiert mit mehr Abschottung. Ist die EU-Flüchtlingspolitik inhuman und gescheitert?
Schulz: Inhuman und kriminell sind die Schlepperbanden, die die Flüchtlinge für viel Geld auf Seelenverkäufer setzen und ihrem Schicksal auf hoher See überlassen. Die EU-Flüchtlingspolitik muss aber dringend reformiert werden, wir haben nach wie vor kein dreigliedriges Recht. Wir brauchen erstens ein legales Einwanderungsrecht, zweitens eine Ausweitung des temporären Schutzes für Menschen, die nur zeitweise zu uns kommen und langfristig wieder in ihre Heimat zurück wollen, und drittens das politische Asyl für wirklich politisch Verfolgte. Beim legalen Einwanderungsrecht kann die EU Hoffnung geben, aber keine Garantie. Wer legal einwandern möchte, kann sich auf eine Liste setzen lassen und wird vielleicht angenommen, kann aber von Europa auch abgelehnt werden. Solche Gesetze haben andere Einwanderungsregionen wie die USA oder Neuseeland auch.
Immer wieder fordern Sie, dass Europa mehr gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa tun muss, damit es dort nicht verlorene Generationen gibt. Welche Erwartungen haben Sie an den Gipfel zu Beschäftigung, Investitionen und Wachstum, der am 7. Oktober in Italien stattfinden soll?
Schulz: Ich habe im Wahlkampf die Jugendarbeitslosigkeit als eines der drängendsten internen Probleme in Europa bezeichnet und bin deshalb froh, dass wir nun handeln. Die Staats- und Regierungschefs wollen auf Vorschlag der EU-Kommission ein 300 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm umsetzen. Dazu kommen Mittel aus dem europäischen Entwicklungs-Fonds, der europäischen Investitionsbank, Eigenmittel der südeuropäischen Staaten und private Investitionen in Projekte, die Rendite abwerfen und gleichzeitig zu Wachstum führen. Das Geld sollte in Forschung, Entwicklung und digitale Infrastruktur fließen. Eine kleine Firma in Italien zum Beispiel möchte investieren, steckt aber in der Kreditklemme. Wenn diese Firma aus einem europäischen Programm einen Kleinkredit bekommt und gleichzeitig einen arbeitslosen Jugendlichen einstellt, dann bekommt sie Sonderkonditionen bei den Zinsen und Laufzeiten. So kann man Wirtschaft und Wachstum anschieben und gleichzeitig die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen.
Der designierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aus Luxemburg stellt gerade seine Mannschaft zusammen. Wie in der bisherigen Kommission sollen neun Frauen dabei sein. Bei welcher Konstellation wird das Europäische Parlament dem Gremium nicht zustimmen?
Schulz: Wenn es deutlich weniger als neun Frauen sind, fällt diese Kommission im Europäischen Parlament durch.
Kommissionspräsident Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk aus Polen, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini aus Italien und Sie als Präsident des Europäischen Parlaments - wie schlagkräftig ist die neue EU-Führung?
Schulz: Sehr schlagkräftig. Tusk und ich kennen und verstehen uns seit langem sehr gut, Juncker hat zu Tusk und auch zu mir ein enges persönliches Verhältnis, und Frau Mogherini hat ihren bisherigen Posten als italienische Außenministerin nicht in der Lotterie gewonnen, das heißt sie ist außenpolitisch erfahren. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Führung die europäische Integration voranbringen kann.
Und wie stark lassen die 28 EU-Staats- und Regierungschefs dieses Quartett werden?
Schulz: Die vertreten in Brüssel zunächst richtiger Weise die Interessen ihrer Länder. Und wir vier Repräsentanten der EU-Institutionen vertreten die Interessen der Gemeinschaft. Im Idealfall stellen wir alle eine Balance her.
Sie haben Ihr Ziel verfehlt, die Wahlen zum Europäischen Parlament zu gewinnen und dann EU-Kommissionspräsident zu werden. Wie geht es Ihnen in der alten und neuen Position als Parlamentspräsident?
Schulz: Die Demokratie ist manchmal auch eine harte Staatsform, und ich musste eine Niederlage hinnehmen. Aber ich bin sehr stolz, dass mich meine Kolleginnen und Kollegen mit einer breiten Mehrheit zum Parlamentspräsidenten wieder gewählt und mir damit gute Arbeit attestiert haben. Die will ich in den nächsten zweieinhalb Jahren fortführen und das Ansehen sowie Gewicht des Europäischen Parlaments weiter stärken. Und Jean-Claude Juncker kann sich bei seiner Arbeit auf meine hundertprozentige Unterstützung verlassen.