Der Hamburger Stararchitekt Meinhard von Gerkan plant eine neue Stadt in China – inklusive See im Zentrum. 2020 soll das Projekt fertig sein und Platz für 800.000 Menschen bieten.
Shanghai. Still ruht der Lake Dishui, seine Umrisse verschwimmen in einer Dunstglocke. Die Außenalster war einst Vorbild, als der künstlich angelegte See aus dem Nichts geschaffen wurde. Für einen Moment wähnt man sich in hanseatischen Gefilden. Doch Hamburg ist knapp 13.000 Kilometer entfernt.
Es ist 35 Grad warm, auf der schicken, breiten Uferpromenade hat ein Verkäufer einen kleinen Stand an seinem Fahrrad aufgebaut, an dem er Plastik-Spielzeug anbietet. Aber kein Kunde ist da. Wir sind zu Besuch in Lingang New City, einer neuen Stadt in den Kinderschuhen: Etwa 60 Kilometer südöstlich der 25-Millionen-Stadt Shanghai – Hamburgs Partnerstadt – entfernt, erdacht und geplant am Reißbrett, vom Hamburger Gmp-Büro des Star-Architekten Meinhard von Gerkan.
Verglichen mit anderen Städten, die innerhalb weniger Jahre hochgezogen wurden, sprengt das Projekt alle bisherigen Dimensionen. 2003 begannen die Bauarbeiten für die Stadt, in der auf einer Gesamtfläche von 296 Quadratkilometern künftig 800.000 Einwohner leben sollen. 2020 soll sie fertig sein, sagt der Master-Plan. Fertig?
Fanny Hoffmann-Loss, 44, leitende Architektin im gmp-Büro von Shanghai, lächelt. „Das sind die Planungen, aber es steht noch in den Sternen, ob das eingehalten werden kann“, sagt sie, als sie uns durch die Stadt führt. Sie ist mit dem Auto gut anderthalb Stunden von der Innenstadt Shanghais entfernt. Es ist, als ob man plötzlich in einer anderen Welt ist. Der erste Eindruck: eine Geisterstadt. Die Straßen sind breit, die Boulevards mondän, die Kreuzungen modern, eine Kulisse wie in Hollywood. Viele Gebäude sind bezugsfertig, aber die meisten sind verwaist.
Ungefähr 40.000 Studenten leben derzeit allein im Umfeld der Universitäten in Lingang New City, zudem noch Uni-Angestellte, im gesamten Gebiet sind es rund 155.000 Einwohner, meist Mitarbeiter von Firmen, die hier angesiedelt sind. „Die genaue Gesamt-Bewohnerzahl lässt sich schwer beziffern“, sagt Fanny Hoffmann-Loss. Ansonsten seien es Tagestouristen, die Lingang am Wochenende bevölkern, um am Strand ausspannen. „Dann ist es richtig voll hier“, sagt sie. Seit 2006 ist die Architektin und Projektmanagerin, die auch in China studierte, in der Repräsentanz des Architekturbüros von Gerkan, Marg und Partner (gmp International) in Shanghai tätig.
Die Stadt Alexandria, eines der sieben Weltwunder, stand Pate für den Lingang-Entwurf, für die Wasser-Elemente auch Hamburg. Lingangs Zentrum bildet der kreisrunde, künstlich geschaffene See „Lake Dishui“, sein Durchmesser beträgt 2,5 Kilometer. Als die Verantwortlichen aus China einst in Hamburg bei gmp waren und an der Außenalster standen, sollen sie gesagt haben: So etwas hätten sie auch gerne bei sich, nur größer.
Gesagt, getan. Um die „chinesische Außenalster“ ist eine Seepromenade angelegt, acht Kilometer, inklusive Badestrand à la Copacabana und Glockenturm. Es ist eine Stadt, die in Ringen konzipiert ist. Hinter der Promenade gibt es einen Ring, der mit Geschäfts- und Bürogebäuden, Einkaufspassagen und Wohngebäuden bebaut ist. Hier soll sich das Leben abspielen. Der nächste Ring ist als städtischer Grüngürtel angelegt. Darum gruppieren sich die Wohnsiedlungen. Wege und Straßen durchlaufen radial die konzentrische Struktur. Dazwischen liegen kleine Parks, Wasserläufe und kleine Seen.
Die 14 Wohnquartiere, die sich im dritten Ring um das Zentrum herum erstrecken, angelegt für jeweils 13.000 Menschen, sind eingelassen in den gewachsenen Landschaftsraum der Provinz von Nanhui. Als autarke Kleinstzentren mit Geschäften, Dienstleistungen, medizinischer Grundversorgung, Kindergarten und Kinderkrippe bilden sie eigenständige Gemeinden.
Die Geburtsstunde war 2001: Wegen des enormen Bevölkerungs- und Industriewachstums Shanghais und um einen Beitrag zur „grünen“ Stadtentwicklung zu leisten, organisierte das Shanghaier Stadtplanungsamt einen internationalen Wettbewerb zur Planung der neuen Industrie-, Wohn- und Hafenstadt – von Gerkans Büro bekam 2002 den Zuschlag, gewann den 1. Preis. Wie der Architekt das erfuhr hat? Eine Anekdote: Beim Galadinner, kurz vor der offiziellen Bekanntgabe, las sein chinesischer Partner die Namensschilder auf dem Tisch. Am Platz neben dem obersten Boss stand das Namensschild von Gerkans, da war die Sache klar.
Im Jahr 2008 war der erste Bauabschnitt für 80.000 Einwohner auf dem Gebiet des heutigen Festlandes abgeschlossen. Zweiter und dritter Bauabschnitt folgen bis zum Jahr 2020. Ein Teil der Fläche wurde dem Meer durch Landgewinnung abgerungen, so entstand auch Lake Dishui. Eine Ansiedlung mit Schwerindustrie-Unternehmen gibt es bereits, vier Hotels.
Wir machen eine Tour durch die Ringstraßen, eine Betonwüste. „Vor 15 Jahren war hier noch alles Wasser“, sagt Fanny Hoffmann-Loss. In einem Viertel, das schon bewohnt ist, machen wir halt. Ein paar Lebensmittel-Shops haben geöffnet, ein kleiner Obstmarkt. Endlich mal was los: Makler kommen aus ihren Büros, als wir dort stoppen. Sie warten auf Kunden, aus Shanghai. „Noch bleiben sie leider aus“, sagt ein Makler. Umgerechnet 1400 bis 1900 Euro kostet hier der Quadratmeter. Eine Mietwohnung zum Beispiel, 80 Quadratmeter, bekommt man schon für 300 Euro aufwärts monatlich.
Wir fahren weiter zu einem Wohnensemble, das „Hamburg-Quartier“ genannt wird, Nr. 4 in der dritten Ringstraße. Schicke mehrgeschossige Bauten aus Granit, Naturstein, mit Balkonen, drum herum Grünflächen – es könnte auch in Eppendorf oder Pöseldorf sein. Kein Gebäude darf nach dem Masterplan in Lingang höher als 80 Meter sein. Die Energieversorgung erfolgt bisher fast ausschließlich über nicht-erneuerbare Energien (Kohle, Kernkraft), auch auf Windenergie, Erdwärmeanlagen und Sonnenenergie setzen die Verantwortlichen. Fanny Hoffmann-Loss zeigt immer wieder auf Risse, als wir uns Gebäude und Straßen in der Stadt ansehen, auch an einem Geländer: „Hier geht schon einiges kaputt, da müsste man etwas machen“, sagt sie. „Die Luftfeuchtigkeit und die salzige Meeresluft beschleunigen den Verfall.“
Wir besuchen das „China Maritime Museum“, 2009 eröffnet, es liegt am Ufer eines durch Landaufschüttung dem Meer abgerungenen fünf Quadratmeter großen Sees. Ein Leuchtturm fehlt auch nicht. Meinhard von Gerkan hat auch diesen Entwurf konzipiert – auf 46.400 Quadratmetern, eine Ausstellung zur Geschichte der chinesischen Seefahrt, in der Mitte ein riesiges aufgetakeltes Schiff. Zwei 58 Meter hohe aneinander „gelehnte“ Gitterschalenkonstruktionen erheben sich am Gebäude und formen ein „Segel“.
Es geschieht einiges, doch Lingang New City ist in Shanghai bei Experten eher ein Tabu-Thema. Dazu könne er nichts sagen, sagt beispielsweise Binwu He, 66, knapp, er ist Milliardär. Der Konzern Franshion Properties, in dem er wirkt, tätigt nach eigenen Angaben in ganz China Investitionen in Höhe von knapp 30 Milliarden Euro. Lingang New City, die sei weit weg, winkt er ab. Er spricht lieber von den Bauvorhaben am Bund, der Flaniermeile Shanghais. In Downtown am Bund auf einer Strecke von zwei Kilometern wurden 34 Gebäude realisiert, die seine Firma geplant hat, und die dem Unternehmen gehören. „In den kommenden Jahren kommen hier noch mal 16 Gebäude dazu.“
Um mehr Bewohner nach Lingang New City zu holen, ihr mehr Leben einzuhauchen, gewährte man Firmen dort etwa Steuer- und Wohnvergünstigungen, und man siedelte schnell ein paar Unis in der neuen Stadt an, auch die Shanghai Ocean University. Diese Spezialuniversität lehrt auf Gebieten der Ozeanographie, Fischereiwesen und Fangtechnik, Nahrungsmittelverarbeitung. Stolz zeigt Zhong Jungsheng vom Foreign Affairs Office einen Film, der die 1912 gegründete Uni anpreist. Was er von Lingang New City hält? „Ich arbeite den ganzen Tag, habe kaum Zeit, mir sie anzuschauen“, sagt er, diplomatisch. Aber: Die Luftwerte seien hier besser als in Shanghai, meint er.
Eine U-Bahn fährt immerhin schon nach Lingang New City, Endstation Giga-Stadt: „Die Linie 16, ich bin schon mit ihr dorthin gefahren“, sagt Fanny Hoffmann-Loss. Um mal wieder nachzusehen, was die Super-City macht. Wie weit sie wieder gewachsen ist, in China geht so etwas schnell.