Daniela Schremm fordert gesetzlichen Anspruch auf Assistenz
Daniela Schremm, 50, ist im Vorstand von Autonom Leben. Die Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung setzt sich seit 30 Jahren dafür ein, dass behinderte Menschen selbstbestimmt und in Würde leben können.
Hamburger Abendblatt:
Wie beurteilen Sie den Fall?
Daniela Schremm:
Ich habe den Eindruck, dass die tragischen Fälle von toten Kindern in Hamburg dazu geführt haben, dass jetzt eine Mutter mit Epilepsie, die Hilfe gebraucht und gesucht hat, sehr genau unter Beobachtung steht und teilweise auch der Teufel an die Wand gemalt worden ist. Was auch immer die Gründe dafür sind: Man macht ihr das Leben schwer, anstatt sie zu unterstützen. Und ich finde es erschreckend, wie leicht sich der Verdacht festsetzen kann, dass mit einem Menschen etwas nicht stimmt. Natürlich wissen auch Ärzte und Sachbearbeiter nicht immer, warum Menschen vielleicht anders reagieren, als es in ihre Vorstellung von Normalität passt.
Was ist in diesem Fall schiefgelaufen?
Schremm:
Es ist schwer für Außenstehende durchzublicken, was genau wo und warum schiefgelaufen ist. Ich kann auch verstehen, dass es für die Mitarbeiter im Jugendamt, die einen überaus schwierigen und verantwortungsvollen Job haben, derzeit keine einfache Situation ist. Aber das darf nicht zulasten einer Mutter mit einer chronischen Erkrankung führen. Soweit ich das beurteilen kann, hat die Mutter nichts falsch gemacht. Es ist wohl für jede Mutter unglaublich schön, aber eben auch sehr anstrengend, plötzlich 24 Stunden am Tag für einen Säugling da zu sein. Für eine alleinerziehende Mutter ist es noch schwieriger. In diesem Fall kommt noch eine Menge sehr belastender Faktoren dazu: Zuerst die große Sorge, ob das Baby ernsthaft krank ist. Dann die ständige Beobachtung durch Jugendamt und Ärzte. Plötzlich die unglaublichen Vorwürfe, die im Raum standen, und schließlich die schmerzhafte Trennung von dem Baby, das man sich so sehr gewünscht hat. Alles zusammen ist eine gewaltige Belastung und kaum auszuhalten. Es ist furchtbar, was Anna in diesen Wochen durchmachen muss. Besonders schrecklich finde ich, dass man ihr nicht einmal mehr erlaubte, ihr Baby ohne Begleitung zu besuchen und auf den Arm zu nehmen. Das ist eine große Demütigung. Ich finde, dass Anna trotz aller Verzweiflung sehr kooperativ ist. Ich glaube, wenn mir jemand mein Baby weggenommen hätte, wäre ich viel aggressiver gewesen.
Wie haben Sie Anna erlebt?
Schremm:
Ich habe sie in der kurzen Zeit so erlebt, dass sie jeden Rat annimmt und nichts verweigert. Sie ist unglaublich offen und positiv, vielleicht wirkt genau das auf manchen etwas unbedarft und naiv. Sie hatte wohl bisher in Bezug auf ihre Erkrankung wenig Erfahrung mit Behörden, da sie bis vor Kurzem selbstbestimmt leben konnte und keine Hilfe in Anspruch nehmen musste. Vielleicht wird ihr das jetzt zum Verhängnis. Wenn man erst einmal unter Beobachtung steht, hat man wohl keine Chance mehr, alles richtig zu machen. Anders gesagt: Es lässt sich immer etwas am Verhalten finden, das gegen einen verwendet werden kann.
Was müsste jetzt passieren?
Schremm:
Ich kann verstehen, dass Anna in ihrer Wut die Öffentlichkeit sucht. Aber sie braucht jetzt vor allem Ruhe und die Chance, nach acht schweren Wochen endlich mit ihrer kleinen Tochter zusammenleben zu können. Ich finde vor allem, sie sollte schnellstmöglich das Sorgerecht zurückbekommen. Wenn es so ist, wie es scheint, traut man ihr wegen ihrer Epilepsie nicht zu, die Sorge für ihr Kind zu übernehmen – aus Angst, dass dem Kind durch ihre Epilepsie etwas passieren könnte. Anna ist aber natürlich nicht die einzige Mutter mit Epilepsie. Sie wird vielleicht eine Zeit lang Unterstützung brauchen, aber das allein rechtfertigt überhaupt nicht den weiteren Entzug des Sorgerechts.Behinderte Mütter aber haben es erheblich schwerer, weil es keinen klaren Rechtsanspruch für ihren Unterstützungsbedarf gibt. Behinderte Eltern werden oft monatelang zwischen verschiedenen Behörden wie Sozialamt und Jugendamt hin- und hergeschickt. Oft fühlt sich niemand richtig zuständig. Wir brauchen einen gesetzlichen Anspruch auf Assistenz für behinderte Eltern, in dem verschiedene Leistungen gebündelt werden. Ansonsten gibt es immer nur Einzelfallentscheidungen. Es wäre auch nötig, dass Geburtskliniken, Ärzte und Behörden besser informiert werden über Unterstützungsmöglichkeiten für behinderte Mütter. Und dass sie diese Mütter dann auch an entsprechende Stellen wie zum Beispiel Autonom Leben verweisen.