Hamburg hat sich vom Nachzügler zum Vorreiter der direkten Demokratie entwickelt. Zwei neue Bücher zeigen, wie es dazu kam und wie die Entwicklung weiter gehen könnte.

Im Rückblick muss man sagen, dass die CDU genau das Gegenteil von dem erreicht hat, was sie wollte. Auf geradezu faustisch-dialektische Weise wurde sie bei ihrem Kampf gegen mehr Bürgerbeteiligung in Hamburg zu einem „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Gleich zweimal in Folge ging die Partei zu ihrer Regierungszeit unter Ole von Beust über Volksentscheide hinweg: Sie verkaufte die städtischen Krankenhäuser und ignorierte das Votum der Bürger, die sich mit großer Mehrheit für einen Verbleib in städtischer Hand ausgesprochen hatten. Sie änderte das per Volksentscheid eingeführte Wahlrecht mit ihrer absoluten Mehrheit nach ihrem Gusto. Und zugleich erschwerte sie den Volksinitiativen das Leben, indem sie etwa die Möglichkeiten zum Unterschriften-Sammeln einschränkte.

Die Provokation, dass eine Regierung sich schamlos über den Willen des Souveräns hinwegsetzte, führte zu großer Empörung und am Ende dazu, dass Hamburg durch mehrere Reformen binnen kürzester Zeit vom Schlusslicht bei der Bürgerbeteiligung zur Avantgarde wurde – wozu eine geläuterte CDU ab 2008 selbst beitrug. Durch Gesetzesänderungen wurden Volksentscheide nun verbindlich und durch eine exaktere Formulierung des Artikels 50 der Hamburger Verfassung wurde es Volksinitiativen insgesamt leichter gemacht. Zugleich erhielt das Wahlrecht Verfassungsrang und kann jetzt nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden.

Obwohl die Hansestadt erst 1996 als letztes Bundesland die Möglichkeit von Volksentscheiden einführte, habe sie sich 2008 und 2009 schlagartig zu einem bundesweiten Vorreiter der direkten Demokratie entwickelt, schreibt Prof. Andreas von Arnauld in der gerade erschienenen Broschüre „Direkte Demokratie in Hamburg – fast zwanzig Jahre direkte Bürgerbeteiligung“. Mit all den Kämpfen der vergangenen 18 Jahre sei die Hansestadt „zu einer Art Labor für direktdemokratische Feldversuche geworden“, so von Arnauld. Hierfür eigne sich ein Stadtstaat besonders gut, da die Menschen nah beieinander lebten und daher auch öfter unmittelbar betroffen und leichter mobilisierbar seien.

Die 176 Seiten umfassende Aufsatzsammlung der Landeszentrale für politische Bildung beleuchtet die Geschichte der direkten Demokratie in Hamburg aus unterschiedlichen Perspektiven – aus der juristischen und parlamentarischen, der Sicht der Initiativen und der Medien. Als Autoren haben dabei u.a. der Herausgeber des Bandes und SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, Landeswahlleiter Willi Beiß, die Volksinitiatoren Manfred Brandt („Mehr Demokratie“), Manfred Braasch („Unser Hamburg – unser Netz“) und Walter Scheuerl („Wir wollen lernen“), der Verfassungsrechtler Hans Peter Bull sowie der stellvertretende Chefredakteur des Abendblatts, Matthias Iken, Texte beigesteuert.

Darin wird keinesfalls nur ein Loblied auf die Bürgerbeteiligung gesungen, sondern auch auf die Gefahren hingewiesen. So konstatiert Matthias Iken („Hamburger Abendblatt“) in seinem Beitrag, dass der „vermeintliche Bürgerwille viel zu oft ein kaschierter Betroffenenwille“ sei. Auch weist er auf ein etwa beim Volksentscheid gegen die Einführung der Primarschule 2010 zu beobachtendes Phänomen hin: Dass vor allem die gut Gebildeten und besser Betuchten abstimmten, am Ende also die Nienstedtener mehr Einfluss nahmen als die Billstedter – obwohl die Primarschule gerade deren Kindern zugute kommen sollte.

Für Parteien und Verwaltung sind die neuen Möglichkeiten von Volksinitiativen, das neue Wahlrecht und das durch das Transparenzgesetz stark erweiterte Auskunftsrecht der Bürger zu einer ständigen Herausforderung geworden. „Ein bürgerfreundliches Wahlrecht, leichter Informationszugang und eine bürgernahe Verwaltung standen immer mit auf der Agenda“, schreibt Manfred Brandt vom Verein „Mehr Demokratie“, der den Weg zu mehr direkter Demokratie seit 18 Jahren begleitet. „Sie gehören zusammen und bilden die Grundelemente einer aufgeklärten selbstbestimmten Gesellschaft selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger.“ Parteipolitik und Verwaltung müssten und würden sich darauf einstellen. „Aus der eher die Gesellschaft beherrschende, werden sie in eine mehr dienende Position gedrängt“, so Brandt. „Das ist ein zum Teil schmerzlicher Prozess, der nicht reibungslos abläuft und Zeit braucht.“

Brandt sieht die jüngste Entwicklung bei alldem eher als Heilungschance für ein kränkelndes System denn als Gefahr für den Parlamentarismus. „Die parlamentarische Demokratie ist in Gefahr, weil das Ansehen der Parteien immer weiter sinkt“, sagt Brandt. Umso wichtiger werde die direkte Beteiligung der Menschen an politischen Entscheidungen. Dadurch könnte sich die Menschen, die sich nicht mehr mit den Parteien identifizierten, trotzdem mit dem Gemeinwesen identifizieren.

Einen Aufsatz mit Nutzwert für künftige Initiativen hat Walter Scheuerl beigesteuert, der mit „Wir wollen lernen“ 2010 die Primarschule verhinderte. Der Rechtsanwalt gibt einen interessanten Überblick zur Einschätzung des Mobilisierungspotenzials, Tipps zur Gründung von Volksinitiativen und für eine professionelle Medienarbeit. Zugleich weist er darauf hin, dass eine Volksinitiative immer auch die „Machtfrage“ stelle – und dementsprechende harte Gegenwehr von den Regierenden und ihrem Apparat zu erwarten habe. „Dabei geht es nicht immer nur mit Samthandschuhen und hanseatisch fein zu“, schreibt Scheuerl.

Aus Sicht von Landeswahlleiter Willi Beiß sind die Abläufe der Bürgerbeteiligung keine Herausforderung mehr. „Die Verfahrenswege sind weitgehend ausbalanciert“, schreibt Beiß in einem Beitrag. Seit 1996 hat sein Amt 37 Unterschriftensammlungen für Volksinitiativen registriert. 25 seien erfolgreich verlaufen, daraus hätten sich 14 Volksbegehren und schließlich sieben Volksentscheide entwickelt, von denen vier erfolgreich gewesen seien. Die bekanntesten sind wohl der gegen die Primarschule und der über den vollständigen Rückkauf der Energienetze im vergangenen Jahr. Auf Bezirksebene hat es seit der Einführung dieser Möglichkeit im Jahre 1998 insgesamt 90 Bürgerbegehren gegeben – die meisten in Wandsbek und Altona. Dabei sei ein Bürgerentscheid häufig durch eine Einigung zwischen Initiative und Bezirksversammlung verhindert worden, heißt es in einem Resümee.

„Der Sammelband bildet die ganze Bandbreite der Meinungen ab: Von Herrn Braasch bis Herrn Scheuerl, von Mehr Demokratie bis zur Handelskammer“, sagt Herausgeber und SPD-Fraktionschef Andreas Dressel „Wir sind sicher, dass er zu Diskussionen einlädt.“ Insgesamt lasse sich in Hamburg „ein positives Fazit der direktdemokratischen Entwicklung ziehen“, so Dressel.

Wem die informativen, aber bisweilen recht akademisch gefassten Aufsätze des Sammelbandes zu sperrig sind, dem sei an dieser Stelle ein anderes Büchlein empfohlen. Gregor Hackmack, Gründer des Internetportals abgeordnetenwatch.de und Vorstand von „Mehr Demokratie“, hat mit „Demokratie einfach machen. Ein Update für unsere Politik“ ein weitaus unterhaltsameres, aber ebenso lehrreiches Buch geschrieben. Darin beschreibt der Absolvent der London School of Economis seine Entwicklung zum Streiter für mehr Transparenz in der Politik und mehr Bürgerbeteiligung. Hackmack nimmt sich dabei gängige Vorurteile gegen Volksentscheide vor („Freibier für alle“) und gibt Tipps zum Start von Bürgerbegehren, zum Sammeln von Unterschriften und Spenden oder zum Umgang mit den Medien.

„Ich möchte allen Mut machen, die unzufrieden sind mit Politikern und Politik, die sich einmischen und engagieren wollen, aber nicht wissen, wie und womit“, schreibt Hackmack. „Meine Antwort ist so einfach wie effektiv: Wir alle können ‚Demokratie einfach machen‘.“

„Direkte Demokratie in Hamburg. Fast zwanzig Jahre direkte Bürgerbeteiligung“ gibt es kostenlos bei der Landeszentrale für politische Bildung oder als PDF unter http://www.hamburg.de/contentblob/4327052/data/direkte-demokratie.pdf.

„Demokratie einfach machen. Ein Update für unsere Politik“ von Gregor Hackmack, Edition Körber-Stiftung, hat 156 Seiten und ist im Buchhandel für 14 Euro erhältlich.

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