Johannes F. Kamm, Leiter von Pflegen & Wohnen, sprach mit dem Hamburger Abendblatt über die Zukunft der Altenpflege. Er will die Selbstbestimmung und persönliche Betreuung ausbauen.

Helle Farben und große Fensterfronten dominieren das Alters- und Pflegeheim Finkenau, im Patio warten Strandkörbe auf die Bewohner. Oder auch mal auf die Mitarbeiter des Betreibers Pflegen & Wohnen, das im Obergeschoss seine Zentrale hat. Johannes F. Kamm leitet das Unternehmen, das 2007 privatisiert wurde und an 13 Standorten 2850 Pflegeplätze anbietet. In der Gesprächsreihe „Stadtlabor“, in der die Zukunftsthemen der Stadt mit Experten erörtert werden, stellt er seine Vorstellungen übers Altwerden in Hamburg in den kommenden Jahrzehnten vor. Eines ist für ihn klar: Die Heimsituation, wie wir sie heute noch kennen, wird an Bedeutung verlieren.

Hamburger Abendblatt: In den vergangenen Jahren sind in Hamburg viele Alten- und Pflegeheimen auch unter Ihrer Regie entstanden. Ist es jetzt schöner, bei Ihnen zu alt zu werden?

Johannes F. Kamm: Moderne Pflegeheime bieten jedenfalls die Möglichkeit, die Pflege in kleineren Einheiten anzubieten. Aus Sicht der Politik gibt es idealerweise in einer Einrichtung nicht mehr als 80 Betten. Ältere Gebäude, von denen wir viele haben, sind deutlich größer und zählen bis zu 300 Betten.

… die Sie nicht alle abreißen können, der Bedarf ist zu groß.

Kamm: Auch künftig wird die Mehrheit der Pflegebedürftigen in größeren Häusern leben. Aber auch in diesen Einrichtungen können wir Privatheit durch „Kleinheit im Großen“ schaffen. Ziel ist es, unseren Bewohnern ein ihrer früheren Häuslichkeit entsprechendes Gefühl zu vermitteln. Bestenfalls fühlen sie sich an ihr Wohnzimmer oder ihre Küche erinnert.

Wie erreichen Sie diese Privatheit?

Kamm: Wir gestalten die Heime so, dass es auf einer Etage nur überschaubare Einheiten gibt. Nicht mehr als 20 Pflegezimmer auf einem einsehbaren Flurabschnitt, wenn es irgendwie geht.

Vor welchen Herausforderungen steht die Pflegebranche?

Kamm: Wer heute in ein Pflegeheim kommt, ist wesentlich älter und in der Regel so schwer pflegebedürftig, dass er daheim von den Angehörigen nicht mehr versorgt werden kann. Oder es fehlen ihm Angehörigenstrukturen gänzlich. 80 Prozent unserer stationär untergebrachten Pflegebedürftigen sind schwer dement. Leicht pflegebedürftige Bewohner gibt es kaum noch. Der Aufenthalt in einem Pflegeheim ist heute im Durchschnitt deutlich kürzer als früher und leider immer wieder bereits mit dem Anfang des Sterbeprozesses verbunden.

Ist das Image von Pflegeheimen deshalb so schlecht?

Kamm: Zumindest ist die gesellschaftliche Wahrnehmung so, obwohl wir weder verwahren und noch zu Tode pflegen. Die Qualität der Altenpflege besteht ja gerade maßgeblich in einer guten Sterbebegleitung. Aber wenn sie jemanden fragen, ob er ins Heim ziehen würde, dann heißt die Antwort oft: „Nur, wenn ich unbedingt muss.“ Allenthalben wird propagiert, dass es besser und menschlicher sei, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden alt zu werden.

Stimmt das denn nicht?

Kamm: So pauschal halte ich die Aussage, eine Pflege in der eigenen Wohnung sei besser als die Pflege in einem Heim, für falsch. Wir Menschen sind soziale Wesen und zu unserem Leben gehört, dass wir Kontakt zu anderen Menschen haben. Aber hat jemand genügend Kontakt, wenn einmal am Tag ein Pfleger kommt und er ansonsten allein ist? Unter den Senioren, die in ihren Wohnungen betreut werden, leiden viele unter schrecklicher Einsamkeit.

Das wäre in einem Pflegeheim anders?

Kamm: Das Leben in einem Pflegeheim ist ja viel mehr als den Bewohnern das Essen zu kochen oder sie zu waschen. Unsere Bewohner treffen hier Menschen, können miteinander reden, etwas zusammen unternehmen und gemeinsam erleben. Hier gibt es das Lachen anderer Menschen, aber auch die Ruhe abends auf dem Balkon, wenn die Sonne untergeht. Wer mit seiner bestehenden Häuslichkeit aktiv etwas anfangen kann, Kontakte zu Verwandten, Freunden oder Nachbarn hat, für den ist es sicher richtig, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu leben. Für die anderen nicht.

Wie kann man aus Ihrer Sicht das Image von Pflegeheimen verbessern?

Kamm: In einem Pflegeheim alt zu werden, ist nichts Schlimmes. Wir müssen den Menschen die Angst vor dem Alter nehmen. Schließlich wird auch nicht jeder Mensch dement. Außerdem wünsche ich mir mehr Aufklärung über Demenz. Dass Menschen auf einmal alles auf Dauer vergessen, stimmt so nicht. Demenz verläuft in Wellen. Es gibt also auch Tage, an denen sich die Betroffenen an vieles erinnern. Das ist für die Angehörigen wichtig zu wissen.

Trotzdem empfinden viele Kinder die Unterbringung ihrer Eltern in einem Heim als „Abschieben“.

Kamm: Ein Abschieben wollen wir ja auch nicht. Wir wollen, dass die Angehörigen im Alltag der Heimbewohner möglichst viel mitmachen. Sie können hier mit ihrer Mutter oder ihrem Vater genauso Kaffee trinken wie daheim. Alles, was sie gern mit ihren Eltern tun, können sie auch im Heim mit ihnen unternehmen. Der Unterschied ist der Gewinn an Sicherheit. Wenn einmal eine Angehörige kurzfristig ausfällt, wegen einer Krankheit zum Beispiel, dann kümmern wir uns und übernehmen seinen Part.

Früher waren Altenheime oft Verwahranstalten. Müssen sie heute zu Hotels werden, weil ihre Bewohner anspruchsvoller sind?

Kamm: Ein Hotel zu sein, wäre für ein Pflegeheim zu wenig. Menschen im Alter brauchen mehr: Strukturierung des Tages, Fürsorge, soziale Kontakte. Im Hotel zu wohnen setzt voraus, dass man all das selbst organisieren kann. Allerdings, das ist richtig, wollen wir weg von dem Prinzip der Fremdbestimmung. Früher waren Heime oft nach dem Prinzip „wir wissen am besten, was gut für die Bewohner ist“, organisiert. Die Dominanz der Pflegenden ist in dieser Form heute nicht mehr vorhanden. Die Fremdbestimmung ist der Gewährung von Selbstbestimmung gewichen.

Wie sieht so ein verändertes Pflegeheim aus?

Kamm: Die Herausforderung ist, dass Demenzkranke schwer mit Worten erklären können, was sie wünschen. Also müssen wir das, etwa durch Biografiearbeit, herausfinden. Wir sprechen mit ihnen, wir beobachten und reden mit den Angehörigen. Wenn jemand ein Nutella-Brot zum Frühstück will, dann müssen wir das herausfinden und diese Gewohnheit erfüllen.

Hamburgs Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks hat angekündigt, dass auf absehbarer Zeit in Hamburg keine Pflegeheime mehr gebaut werden. Ist das falsch?

Kamm: Nein, weil die Anforderungen an die stationäre Pflege inzwischen so hoch sind, dass es immer schwerer wird, ein Pflegeheim zu bauen, zu starten und nachhaltig zu betreiben. Wir benötigen allerdings bessere „Pflege- und Betreuungsstrukturen“ in den großen Wohnvierteln. Kleine „Zentren vor Ort“, die für Senioren, die in ihrer eigenen Wohnung leben, leicht erreichbar sind und in denen sie die erforderliche Unterstützung und gegebenenfalls Pflege finden.

Seniorentreffs gibt es doch schon.

Kamm: Mir geht es um mehr. Wir diskutieren derzeit mit der Hamburger Politik die gezielte Zusammenarbeit mit den großen Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften mit dem Ziel, ein Pilotprojekt aufzusetzen. Wenn uns in einer Wohnsiedlung zwei kleine Wohnungen überlassen würden, könnten wir dort einen Stützpunkt einrichten. Senioren könnten dorthin kommen, erhielten Tagesstruktur, ein Essen und könnten dort gemeinsam Zeit verbringen. Oder der Pfleger besucht sie in ihrer Wohnung. So ermöglichen wir ein Mindestmaß an Betreuung und Pflege, ohne dass die alten Menschen in ein teures Pflegeheim umziehen müssen. Das Heim kommt sozusagen zu den alten Menschen. In München und Berlin gibt es wohl bereits derartige Angebote.

Warum sollten Senioren so ein Angebot annehmen?

Kamm: Weil es für sie eine Chance ist, ohne größeren Aufwand der Vereinsamung zu entgehen. Und weil Altenpflege dort stattfindet, wo die Menschen leben. Es gibt einen Anlaufpunkt, den Senioren besuchen können. Wie es das Café oder die Lounge in einem Pflegeheim ist. Und wenn jemand dort gern acht Stunden am Tag vor dem Fernseher sitzt und dabei raucht, dann sollte er das auch dürfen. Wir müssen die Milieus stärker als bisher berücksichtigen. Manche Menschen sind in einer schicken Seniorenresidenz überfordert, fühlen sich bereits von der Umgebung unter Druck gesetzt. So etwas haben sie in ihrem Leben nie gesehen. Und das Modell ist auch eine Antwort darauf, dass auch die Menschen mit Migrationshintergrund stärker in unseren Fokus rücken. Da ist das klassische Heim deutscher Prägung oft nicht die richtige Lösung.

Ist das wirtschaftlich machbar?

Kamm: Ein Kollege in Berlin verdient nach eigenen Angaben Geld damit. Es gibt ergänzend dazu die Möglichkeit, die Infrastruktur unserer Einrichtungen zu nutzen. Dann kocht eine Küche eben mehr Essen oder Teile des Pflegepersonals machen an einigen Tagen in der Woche Dienst im Stadtteil. Eines muss uns klar sein: es ist es ein Märchen, zu glauben, dass alle Senioren in hübschen Alten-WGs unterkommen. Und nicht jeder alte Mensch möchte in einer WG leben. Zudem werden Pflegeheime, in denen Menschen stationär untergebracht werden, immer nur für einen kleinen Teil der Senioren da sein.

Wobei eine Alten-WG doch eine charmante Idee ist.

Kamm: Sicherlich, genauso wie die WG, in der Bremens früherer Bürgermeister Henning Scherf lebt, eine Ausnahme ist. In der Regel tun ältere Menschen sich schwer, in ihrem privaten Umfeld sich noch einmal so nah auf andere Menschen einzulassen. Aber wenn sich die Möglichkeit ergibt, das eine oder andere Haus in der Nähe eine Pflegeheimes zu erwerben, dann würden wir ein größeres Einfamilienhaus auch kaufen. Wir könnten dieses an das Heim andocken und die Bewohner pflegerisch und mit Essen versorgen. Aber wie gesagt: Das wird nur ein kleiner Teil des Marktes sein.

Woher kommen in Zukunft jene, die pflegen sollen?

Kamm: Ich halte es für einen Trugschluss, zu glauben, dass es künftig in Relation zum Bedarf noch einmal mehr Pflegekräfte geben wird, als wir sie heute haben. Pflegefachkräfte werden künftig nur noch die Leistungen selbst erbringen, die ihre Fachlichkeit unbedingt voraussetzen.

Und der Rest muss sehen, wie er allein klarkommt?

Kamm: Nein, natürlich nicht. Aber für einen gemeinsamen Spaziergang oder ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee müssen wir keine Pflegefachkraft einsetzen. Hilfskräfte, Nachbarn und Angehörige werden sich darum kümmern. Pflegefachkräfte müssen hier eine anleitende und beratende Rolle übernehmen und zum Koordinator sowie Kontrolleur der Leistung werden. Das ist für uns sogar komplizierter als jetzt, aber wir haben keine andere Wahl.

Ist es nicht naiv zu glauben, dass die Betreuung von Senioren verstärkt über Nachbarn erfolgen soll?

Kamm: Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, und wir werden die Chance darin noch entdecken. Ein Freund hat den Nachteil, dass er in der Regel gleich alt ist. Die Kinder leben oft in anderen Städten. Nein, unsere Gesellschaft muss wieder mehr zueinanderfinden. Wir müssen den Homo socialis in uns wieder zum Leben erwecken.

Wie wird Hamburg im Vergleich zu anderen Regionen bei dem demografischen Wandel wegkommen?

Kamm: Hamburg wird von den vorhergesagten Entwicklungen innerhalb Deutschlands am geringsten betroffen sein. Auch hier wird die Gesellschaft im Durchschnitt immer älter werden, aber auch durch Zuzüge jüngerer Leute langsamer als in den anderen Teilen Deutschland. Hamburg hat also tolle Möglichkeiten, die es sinnvoll zu nutzen gilt.