Spezialwagen der Feuerwehr übernimmt lebloses Kind an der Bundesstraße 5. Protokoll eines dramatischen Einsatzes. Das Baby retten zu können, damit hatten selbst Fachleute nicht gerechnet.

Hamburg. Noch hängt Tyler, fünf Tage alt, auf der Neugeborenenintensivstation im Krankenhaus Wilhelmstift an den Beatmungsschläuchen. Ab und an geht ein reflexhaftes Zucken durch den Körper des Babys, und es ballt die Hand zu einem Fäustchen. Wenn Alberta Adjei ihren winzigen Sohn anschaut, hellt sich ihre sehr ernste, sehr sorgenvolle Miene auf. Für einen Moment ist vergessen, was werden wird – die Frage auch, ob Tyler das ganze Drama ohne Folgeschäden übersteht. Für einen Augenblick zählt nur, was ist. Und allein die Tatsache, dass ihr Junge lebt, grenzt an ein Wunder.

Das Baby retten zu können, damit hatten selbst Fachleute nicht gerechnet. Für die Mutter war die Geburt ein Albtraum, für die Ärzte mindestens eine Herausforderung. Oberärztin Ekaterini Kougioumtzi, seit fast 15 Jahren in der Neonatologie tätig, spricht von einem „extrem seltenen Fall“, und sie meint die Konstellation: Hausgeburt, Beckenendlage, Nabelschnurvorfall. Das Kind lag mit den Füßen voran im Geburtskanal – eine Position, die selbst bei idealer medizinischer Versorgung im Krankenhaus zu Problemen bei der Entbindung führen kann. Im Fall von Tyler kam hinzu, dass er sich in der Wohnung von Alberta Adjei und ihrem Partner Atta auf den Weg gemacht hat. Das war am vergangenen Montag.

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Bei der im neunten Monat schwangeren 40-Jährigen setzen gegen 12 Uhr die Wehen ein, ebenso heftig wie unerwartet. Vier Kinder hat sie bereits auf die Welt gebracht, doch bei Wunschkind Nummer 5 läuft alles schief. Die Kontraktionen dauern nur eine halbe Stunde, da sieht Alberta Adjei schon Tylers Füßchen. Die Schmerzen sind kaum zu ertragen, sie schreit wie am Spieß. Noch mehr quält sie aber der Gedanke, ob es ihrem Baby gut geht. Nur ihr fünfjähriger Sohn Terry ist zu Hause, ihr Partner Atta noch bei der Arbeit. Der Junge bringt ihr einen Zettel, auf dem die Notrufnummer der Feuerwehr steht. Sie wählt die 112. „Schnell kommen, meinem Baby geht schlecht.“ Alberta Adjei, die im Jahr 2000 aus Ghana nach Hamburg gekommen ist, spricht nur gebrochen Deutsch. Aber die Beamten verstehen – und schicken sofort eine Rettungswagenbesatzung nach Neuallermöhe.

Den Einsatz übernehmen die Rettungsassistenten Jörg Braune und Bernhard Pankow von der Feuerwache 26 in Bergedorf. Die Männer sind auch für Notgeburten ausgebildet. Auf der Anfahrt scherzt die Einsatzleitung noch per Funk: „Wenn ihr Gas gebt, kriegt ihr die Geburt noch mit.“ Mit lebensbedrohlichen Komplikationen, einem Geburtsdrama, rechnet kaum jemand. Rund ein Dutzend Kinder bringt die Hamburger Feuerwehr per Notfallgeburt pro Jahr auf die Welt. Alles andere als ein Happy End ist die Ausnahme.

Doch von einem guten Ende sind die Retter am Montag weit entfernt.

Der fünfjährige Terry öffnet Braune und Pankow die Wohnungstür. Im Schlafzimmer sehen die Beamten, wie sich Alberta Adjei auf dem Boden des Schlafzimmers vor Schmerzen krümmt, wie die Beinchen des Babys aus ihrem Unterleib ragen. Rund acht Minuten brauchen sie, um den Jungen auf die Welt zu bringen. Um seinen Hals hat sich die Nabelschnur zweimal gewickelt. Und das leblose Kind atmet nicht, hat keinen Kreislauf. Braune und Pankow beginnen gleich mit der Reanimation, sie verlangt den Männern alles ab. Das Baby hat viel Fruchtwasser geschluckt, deshalb ist die Beatmung schwierig. Sein Körper ist so winzig, dass die Männer Mühe haben, die Druckpunkte für die Herzmassage zu finden. Gemeinsam mit einer Notärztin gelingt es ihnen, das Kind zu stabilisieren. Um die völlig aufgelöste Mutter kümmert sich unterdessen eine zweite Rettungswagenbesatzung. Sie wird ins Bethesda-Krankenhaus eingeliefert, mit schweren Blutungen.

Doch Tylers Leben hängt am seidenen Faden. Sein Zustand ist nach wie vor so kritisch, dass die Notärztin einen Transport zum Wilhelmstift nicht riskieren will. Stattdessen alarmiert sie den Baby-Rettungswagen der Feuerwehr, an Bord ist eine auf solche Fälle spezialisierte Neonatologin, Oberärztin Kougioumtzi. Beide Teams rasen gleichzeitig los. Braune und Pankow aus Neuallermöhe, Kougioumtzi vom Wilhelmstift. Auf halber Strecke treffen sie sich Minuten später am vereinbarten Rendezvous-Punkt an der Bundesstraße 5, nahe der Auffahrt zur A1. Braune und Pankow rechnen mit dem Schlimmsten. Schon ganz kalt sei der Körper des Säuglings gewesen. Im Baby-RTW kämpft Kougioumtzi um Tylers Leben, eine halbe Stunde lang. Sie setzt die Herzmassage fort, spritzt dem Kind über die Nabelvene Adrenalin, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Mit Erfolg. Braune und seine Kollege Pankow sind bis zum Schluss bei dem Baby geblieben. „Als wir dann erfuhren, dass das Herz schlägt, haben wir uns riesig gefreut“, sagt Braune. Im Bethesda-Krankenhaus erhält auch Mutter Alberta Adjei die erlösende Nachricht von der Rettung ihres Kindes. Noch heute kann sie mit Worten kaum beschreiben, was sie in diesem Moment gefühlt hat.

Am Freitag steht sie neben dem Inkubator, in dem ihr Sohn liegt, und streichelt zärtlich sein Köpfchen. Sie lächelt versonnen, so wie glückliche Mütter eben lächeln. Das EKG zeichnet saubere Linien eines kräftig schlagenden Herzens. Tyler schläft tief und friedlich, noch am Abend wollen die Ärzte ihn extubieren, damit er selbstständig atmet. Am Montag könnte er dann auf die Neugeborenenstation verlegt werden.

Die Ärzte hatten Tyler zunächst in Tiefschlaf versetzt und seine Körperkerntemperatur mit einer Kühlmatte gesenkt, um das von Sauerstoffmangel betroffene Gehirn zu schonen, Muttermilch erhält er über eine Magensonde. Wie es weitergeht? „Über mögliche Spätschäden kann man noch nichts sagen“, sagt Oberärztin Kougioumtzi. Tylers Entwicklung werde in den kommenden Jahren medizinisch überwacht. „Er hat aber gute Chancen, ein normales Leben zu führen.“