Vattenfall verschickte allein im ersten Quartal des Jahres 88.000 Mahnungen. Der Wohlfahrtsverband warnt vor Energiearmut. Strom- und Heizkosten seien ein erhebliches Armutsrisiko geworden.
Neustadt. Kein Geld, kein Strom: Weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten, wurde rund 3200 Hamburger Haushalten im ersten Quartal der Strom abgestellt. Das sind gut 500 Haushalte mehr als im Vorjahreszeitraum. Wie aus einer Senatsantwort auf eine schriftliche Kleine Anfrage der Linken-Bürgerschaftsfraktion hervorgeht, waren davon allein im vergangenen Jahr 5800 Haushalte betroffen.
Damit die Rechnungen bezahlt werden, verschickte der Energieriese Vattenfall als Grundversorger im ersten Quartal 88.000 Mahnungen – meistens mehrfach. Wie die Hamburger Vattenfall-Sprecherin Karen Kristina Hillmer dem Abendblatt sagte, werde der Strom jährlich bei bundesweit rund 17.000 Vattenfall-Kunden gekappt. Im Jahr 2012 hatten die Energieversorger in Deutschland 321.539 Bürgern wegen Zahlungsrückständen die Elektrizitätsversorgung abgestellt – drei Prozent mehr als im Vorjahr; in Hamburg waren es 8500 Haushalte.
Ursache dafür sind nicht nur mangelnde Zahlungsmoral, sondern nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Hamburg vor allem die wachsende Energiearmut. „Die steigenden Strompreise bringen einkommensschwache Haushalte immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten“, sagte Christian Böhme, Sprecher des Wohlfahrtsverbands, dem Abendblatt. Strom- und Heizkosten seien ein erhebliches Armutsrisiko geworden. Betroffen sind Hartz-IV-Empfänger ebenso wie alle Haushalte mit niedrigem Einkommen. Die Stromsperren hätten für die Menschen „katastrophale Auswirkungen“, sagte Böhme. „Sie sitzen im Dunkeln, können das Essen für die Kinder nicht mehr erwärmen und nicht mehr warm duschen.“ Das sei menschenunwürdig.
Die Energiekosten haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Mit der Folge, dass daraus eine „zweite Miete“ entstanden sei, betonen der Paritätische Gesamtverband und der Deutsche Mieterbund in einem Papier. Nicht selten nähmen die Energiekosten mehr als 30 Prozent der Gesamtwohnkosten eines Haushalts ein.
Damit der Netzbetreiber den Saft abdrehen darf, müssen die Stromschulden mindestens 100 Euro betragen. „Wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden im Falle ausbleibender Zahlungen mindestens zwei Zahlungserinnerungen im Abstand von 14 Tagen an den betreffenden Kunden verschickt“, betont Vattenfall-Sprecherin Hillmer.
Die Versorgung mit Strom gehört zur unverzichtbaren Daseinsvorsorge
Sollten die Rechnungen nicht beglichen werden und eine Ratenvereinbarung ausbleiben, werde die Stromzufuhr von einem bestimmten Zeitpunkt an unterbrochen. Die Linken-Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir betonte, es bestehe angesichts der gestiegenen Fallzahlen dringender Handlungsbedarf. „Denn die Versorgung mit Strom, Gas und Fernwärme gehört zur unverzichtbaren öffentlichen Daseinsvorsorge.“ Die Stadt müsse dringend alle Beteiligten an einen Tisch holen und gemeinsam einen Plan gegen Energiearmut erarbeiten. Doch der Senat, kritisiert jetzt das Straßenmagazin „Hinz &Kunzt“, verharmlose das Problem. So heißt es in der Senatsantwort: „Tendenziell sei die Anzahl der Sperrungen im 1. Quartal eines jeden Jahres, vor allem im Januar, immer höher als in den Folgemonaten.“ Um die Energiearmut zu stoppen, gibt es in den Parteien und Wohlfahrtsverbänden inzwischen mehrere Lösungsvorschläge. Die Hamburger Caritas setzt zum Beispiel Stromsparhelfer ein: Sie kommen in die Haushalte und prüfen intensiv den Verbrauch. Oft ist es notwendig, dass ältere und verbrauchsintensive Geräte ausgewechselt werden müssen. Beim „Caritas-Stromspar-Check Plus“ wurden bislang mehr als 5500 Haushalte beraten. Im Gespräch sind auch Prepaid-Systeme, wie sie etwa in Großbritannien eingesetzt werden. Sie bieten die Möglichkeit, den Stromverbrauch besser zu steuern, und garantieren eine Mindestmenge an Strom. Derweil prüft das Bundesministerium für Verbraucherschutz die Einführung eines Prepaid-Systems als eine von mehreren Maßnahmen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband Hamburg fordert darüber hinaus, dass im Fall der Grundsicherung (SGB II und SGB XII) die Stromkosten künftig wie die Heizkosten in tatsächlicher Höhe übernommen werden. „Sofern kein zu hoher Verbrauch durch unwirtschaftliches Verhalten nachgewiesen wird“, fügt Verbandssprecher Böhme hinzu. Mit den regionalen Folgen der Energiearmut werden sich vom 26. und 27. September die Aktionstage gegen Armut in Hamburg beschäftigen – in Kooperation mit der Nationalen Armutskonferenz. Experten raten säumigen Energiekunden, auf Mahnungen der Konzerne in jedem Fall zu reagieren. Viele Versorger, heißt es, lassen sich auf Ratenzahlungen ein oder stunden die Stromschulden vorübergehend.