Den Kindern aus Migrantenfamilien hilft das Training in der Jenfelder Box-Akademie bei der Integration. Es bringt ihnen Zielstrebigkeit. Ein Sportangebot für die Mütter steht dagegen vor dem Aus.

Die Leckereien auf den Beistelltischen sehen nach vielen Kalorien aus. Aydan Özoguz, 46, schlank und stilsicher gekleidet in Jeans und blauem Blazer, greift trotzdem zu und beißt herzhaft in eine gefüllte Blätterteigtasche.

Auch ein zweites Glas Tee mit Zucker nimmt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung gern. „Man muss sich auch mal etwas Gutes gönnen, oder?“, fragt sie gut gelaunt in die Runde. Vielstimmiges Frauengelächter ist die Antwort.

Wie überhaupt viel gelacht wird an an diesem Morgen in Jenfeld in den Geschäftsräumen der Box-Akademie des Waldemar Sidorow. Der Theologe hat vor fünf Jahren seine Ideen von Sozialarbeit in Kooperation mit der Max-Schmeling-Schule in dem problembeladenen Stadtteil umgesetzt. In der Turnhalle wird seither kostenloses Box-Training für Kinder und Jugendliche angeboten, viele davon mit Migrationshintergrund.

„Sportbetonte Mütterarbeit“

Und weil Sport nicht nur ein Vehikel für die Integration von sozial benachteiligten Jungen und Mädchen ist, haben sich Frauen aus verschiedenen Ländern am Öjendorfer Damm getroffen, um der Besucherin aus dem Politikbetrieb über ein besonderes Projekt zu erzählen, das sich „sportbetonte Mütterarbeit“ nennt.

Auf die Frauensportgruppe aufmerksam wurden sie durch ihre Kinder, die sie zum Box-Training begleiteten. „Wir haben dann gezielt die Mütter angesprochen“, sagt Galina Sytschjow, die einzige weibliche Trainerin an der Akademie. Andere hörten im Viertel davon, dass es da ein Angebot gibt, nur für Frauen.

Allerdings wird das Projekt nur noch bis Juni 2014 vom Bundesministerium des Innern gefördert. „Wir sind damals vom Sportbund als Integrationsstützpunkt vorgeschlagen worden, weil wir uns seit Jahren mit unserer Art von Sozialarbeit bewährt haben“, erzählt Sidorow. Doch trotz der behördlichen Anerkennung plagen ihn noch immer Finanzprobleme, da er auf Spenden von großzügigen Hamburgern, Unternehmen oder Stiftungen angewiesen ist.

Diese Not teilen viele Einrichtungen in der Stadt, die sich für die Menschen am Rande der Gesellschaft ehrenamtlich oder mit kleinem Budget einsetzen. „Um so erfreulicher ist es, wenn sich jemand Wichtiges und Prominentes wie Aydan Özoguz zum Besuch entschließt“, sagt Sidorow. „Wir sind sehr dankbar dafür und fühlen uns geehrt.“

Problem ist die Sprache

Immerhin fünf Teilnehmerinnen sind zum Treffen mit der Ehefrau von Hamburgs Innensenator Michael Neumann gekommen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil erhebliche Sprachprobleme auch nach Jahren des Hierseins die Integration gerade für Mütter noch immer schwierig macht. Meist haben sie so gut wie keinen Kontakt zu deutschen Nachbarn.

Auch als die Frauen hörten, eine Politikerin würde sich für sie und ihre Gruppe interessieren, waren Misstrauen und Scheu erst einmal groß. Doch dann haben sich Mona aus Eritrea, Nasanin aus dem Iran, Sharifa und Zarghuna aus Afghanistan sowie Naima aus Algerien getraut, der Einladung zu folgen. Zwei der Teilnehmerinnen tragen Kopftücher, wollen sich nicht fotografieren lassen.

„Das ist doch eine schöne Gelegenheit, ein bisschen Werbung für die Arbeit von Herrn Sidorow zu machen“, schaltet sich Özoguz in die Diskussion ein. „Und das wollen Sie doch, oder?“ Das Argument leuchtet ein. Der Fotograf darf seine Kamera benutzen.

Waldemar Sidorow, der langjährige Leiter des Jesus-Centers in der Innenstadt und ehemalige Profi-Eishockeyspieler, gründete die Akademie 2009 zusammen mit dem evangelischen Pfarrer Thies Hagge von der Arche in Jenfeld. „Die Idee war, Jugendlichen und Kindern zu helfen, über das Boxen Aggressionen abzubauen, Erfolgserlebnisse zu ermöglichen und die Spielregeln der Gesellschaft zu vermitteln“, sagt Sidorow.

Gemeinsam reisten die Männer damals nach London, schauten sich dort funktionierende Projekte an. Pfarrer Hagge hat sich nach seiner Anschubhilfe wieder auf seine anderen Aufgaben in der Gemeinde zurückgezogen. Und auch Jürgen Blin, 70, ein ehemaliger Berufsboxer, ist inzwischen in den wohlverdienten Ruhestand zurückgekehrt. Der ehemalige Europameister im Schwergewicht, der 1971 einen Kampf gegen den großen Muhammad Ali verloren hatte, war eine Zeitlang Zugpferd für die kleinen und großen Box-Fans.

Inzwischen hat Sozialarbeiter Sidorow sechs Trainer für seine Sache gewinnen können, die zum Teil fest angestellt, zum Teil neben ihren Jobs als Lehrer, Fitness-Coachs und Juristen in der Freizeit die Boxhandschuhe überziehen. 200 Jungen und Mädchen kommen pro Woche in die Turnhalle. Yoga-Lehrerin Damm arbeitet nebenbei auch im Büro der Akademie mit.

Austausch beim Yoga

Die Schwäbin, seit 28 Jahren in der Hansestadt, ist seit Oktober vergangenen Jahres als Halbtagskraft angestellt. Ihr Kursangebot dient nicht nur der körperlichen Ertüchtigung und Entspannung, sondern gibt den Müttern auch Gelegenheit, sich über Partnerschaft, Kindererziehung oder Behördenprobleme auszutauschen. Und ganz nebenbei verbessern sie auch ihre Deutschkenntnisse.

Für das Treffen mit Özoguz hat Damm ein paar Kleinigkeiten zum Essen besorgt, über die sich alle Anwesenden nun hermachen. „Normalerweise bringen die Frauen zu besonderen Anlässen etwas selbst Gekochtes mit“, sagt die Kursleiterin. „Diesmal habe ich eingekauft, weil ich nicht wusste, wer überhaupt kommen würde.“

Wie sie sich denn fühlen als Ausländer in Hamburg, fragt die Politikerin, nachdem jede der Frauen ein bisschen Privates von sich erzählt hat und die Atmosphäre vertrauensvoll ist. Mona, die in Deutschland aufgewachsen ist, antwortet als Erste. Die allein erziehende Mutter von vier Kindern spricht akzentfrei die Sprache ihres neuen Heimatlandes und kann sich deshalb intensiv in die Diskussion einschalten.

„Ich will unbedingt wegziehen“, sagt sie selbstbewusst. „Hier in Jenfeld hängen mir die Jugendlichen zu viel herum. Ich möchte nicht, dass meine Söhne in schlechte Gesellschaft geraten. Sie können sich zwar im Notfall verteidigen, weil sie boxen können, und das finde ich auch gut. Aber lieber wäre mir, sie kämen gar nicht erst in solche Situationen.“

Zustimmendes Nicken der anderen Mütter. Auch Naima ist froh, dass ihr Schule und abendliches Training zweimal in der Woche bei der Erziehungsarbeit helfen. „Wenn der Lehrer anruft, und sagt, dein Sohn stört schon wieder im Unterricht, hol ihn ab, dann sage ich, bestrafe du ihn. Du weißt doch, wie das geht.“ In den Herkunftsländer der meisten Familien ist der Lehrer eine große Autorität. Erziehung läuft, anders als in Deutschland, zu einem großen Teil in den Schulen ab.

Kaum Treffmöglichkeiten für Frauen

„Ich hätte aber auch gern eine deutsche Freundin“, sagt Naima. Allerdings hat die Algerierin keine Vorstellung davon, wie und wo sie eine finden soll. „Gibt es denn keine Treffpunkte für Frauen im Stadtteil?“, fragt Özoguz. „Hier kann man sich nirgendwo treffen“, antwortet Mona.

Der Grieche, wo sie manchmal etwas getrunken haben, hat längst dicht gemacht. Und ins Schweinske an der Rodigallee wollen sie nicht gehen, seit sich vor ein paar Jahren rivalisierende Banden eine Schießerei in dem voll besetzten Lokal lieferten. Bleibt nur die Spielhalle und der Imbiss im Einkaufszentrum.

„Eure Jungs treffe ich oft am Döner-Stand“, schaltet sich Trainerin Galina Sytschjow ins Gespräch ein. „Der ein oder andere macht dort gern mal auf Möchtegern-Gangster“, sagt die Sport-Studentin und zwinkert in die Runde. Die Frauen lachen. Jungen und Männer, das gehört zu ihrem Geschlechterbild dazu, dürfen sich nach außen hin machomäßig aufführen. „Zu Hause trauen sie sich aber das nicht“, sagt Naima, die seit 2001 in Deutschland ist.

Die Iranerin Nasanin beschäftigt derweil ein anderes Problem, das sie dem Gast aus der Politik nahebringen möchte. Sie sei studierte Sozialwissenschaftlerin, habe hier alle Integrationskurse besucht. „Ich darf aber trotzdem weder arbeiten noch weiter studieren“, sagt sie. „Das ist doch schade für Deutschland.“

Ob sie denn ihren Abschluss habe anerkennen lassen, fragt Özoguz. „Der Antrag liegt noch beim Amt“, antwortet die 35-Jährige. „Seit Langem. Aber ich gebe nicht auf. Man wird ja nicht jünger.“ Bis zur Entscheidung mache sie weiterhin Praktika, erzählt sie.

Während sich Nasanin mit der Politik-Frau über berufliche Perspektiven austauscht, lässt die Aufmerksamkeit bei den anderen Frauen spürbar nach. Der Lautstärkepegel steigt. Özoguz reagiert und fragt in die Runde, was ihnen denn der Yoga- und Bauchtanzkurs bringe. „Einen weniger dicken Bauch“, ruft Naima kess. Gelächter. „Es tut gut“, sagt Sharifa und meint auch die Gemeinschaft. „Wenn wir nachher noch Zeit haben, dann können wir ein paar Übungen machen“, sagt Damm.

Hauptproblem sei die wenige Anerkennung

Dazu kommt es nicht mehr. Nach zwei Stunden muss Aydan Özoguz zum nächsten Termin. Die Assistentin mahnt mit einem Blick auf die Uhr. Die Verabschiedung fällt herzlich aus. Mona, Nasanin, Sharifa, Zarghuna und Naima nehmen das Gefühl mit nach Hause, wahrgenommen worden zu sein. Das sei besonders wichtig für diese Frauen, sagt Waldemar Sidorow.

Mangelndes Selbstbewusstsein, weil wenig Anerkennung in der deutschen Gesellschaft, sei seiner Erfahrung nach eines der Hauptprobleme für das Neben- statt Miteinander der Kulturen. „Aber wenn sie wirklich wissen wollen, wie erfolgreiche Integration aussieht, dann rufen Sie bei Familie Kaplan an.“

Vater Reza Kaplan und seine Frau arbeiten gemeinsam im Restaurant „Monsieur Croque“, eine Institution in Hamm. Yasin, 18, der ältere Sohn, macht seit fast einem Jahr eine Lehre im Autohaus Willi Tiedtke. Mehmet Jan, 15, beginnt demnächst eine Lehre als Koch im „Le Canard“ bei Sternekoch Ali Güngörmüs.

„Ohne das Box-Training und dem, was sie dort fürs Leben gelernt haben, hätten meine Jungs nie die Zielstrebigkeit entwickelt, diese Wege zu gehen“, sagt der Vater ein paar Tage später am Telefon. Seine Botschaft an andere Familien: „Ich kann nur allen Eltern wünschen, dass sie solche Plätze und Menschen für ihre Kinder finden.“