Hamburger Autorinnen und Autoren schreiben exklusiv im Abendblatt einen Fortsetzungskrimi: Ein Autor beginnt, der zweite setzt die Geschichte fort, dann übernimmt der dritte … Acht Wochen lang.
Dieser verdammte Idiot!
Claudius Lehnbrinck starrte missmutig auf seine Ducati hinab. Für diese Saison konnte er das Motorradfahren vergessen. Mit seiner bandagierten Schulter war er nicht mal fähig, die Maschine vom Ständer zu hieven. Verdammter Konstantin.
Als er aus der Garage ins Freie trat, hatte es zu regnen begonnen. Der Hamburger Himmel hing tief und grau. Er ging zurück in die Villa, die ihm schon so lange verhasst war. Im Salon – was für ein Scheißwort: Salon! – holte er den Whisky aus der Bar. Er zog den Korken mit den Zähnen heraus und schenkte das schwere Kristallglas, das er am liebsten ins Panoramafenster gefeuert hätte, randvoll. Dann ließ er sich auf das Sofa sacken, drückte zwei Ibuprofen aus dem Streifen und spülte sie mit dem Dalwhinnie herunter. Während er auf die Wirkung der Schmerztabletten wartete, überlegte er, was er mit seinem Cousin anfangen sollte.
Er hatte Konstantin unterschätzt. Konny.
Auf dem Christianeum waren sie unzertrennlich gewesen. Claudi und Konny. Aber danach war der Unterschied offenbar geworden: Claudius war der Erbe. Konstantin nur der Angestellte. Prinz und Diener.
Claudius’ Vater hatte ihn vor Konny gewarnt. Aber das hatte Claudius abgetan. Mein Gott, er selbst hatte auch Drogen genommen! Und irgendwann wieder aufgehört. Konstantin nicht.
Konnte es sein, dass das Koks seinen Cousin aus der Realität geschleudert hatte? Umbringen hatte Konstantin ihn sicher nicht wollen. Aus zwei Meter Entfernung schießt nicht einmal ein Blinder daneben. Dieser Verrückte hatte ihm zeigen wollen, dass er bereit war, aufs Ganze zu gehen für seine Forderungen nach mehr Geld.
Aber so hatte Konstantin auch die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn gelenkt. Herrgott, jeder Idiot wusste, dass Schussverletzungen gemeldet werden mussten! Die beiden Bullen, dieser abgewrackte Bauer und seine verklemmte Tussi, waren schneller da gewesen als die Bettpfanne. Und er hatte sie belügen müssen. Damit saß er in der Falle. Verdammter Konstantin!
Ich kann dich töten, hatte Konny ihm klargemacht. Oder ich kann dich einfach nur auffliegen lassen, erst das Alibi, als deine Mutter draufging, dann dein beschissenes Zweitleben.
Vater hatte recht gehabt. Sein Cousin war ein Dreckskerl, der ihn jetzt in der Hand hatte.
Claudius stürzte den Whisky in einem Zug.
Gesche stand am Fenster ihrer Wohnung und starrte in den abendlichen Regen, der die Ackermannstraße in einen grauen Mantel aus ertrunkenen Träumen webte. Eingehüllt in einen warmen Pulli und mit einer heißen Tasse Darjeeling in der Hand, versuchte sie zu verstehen, was mit ihr geschah.
Sie hätte sich längst um einen neuen Pflegefall bewerben müssen, ihr Chef hatte bereits mehrfach versucht, Gesche zu erreichen. Doch sie war gelähmt. Und verstand nicht, warum.
Sie hatte immer aufgepasst. Niemand wusste von ihren … Erbschaften. Doch seit einiger Zeit hatte sie die Gewissheit, verfolgt und beobachtet zu werden. Schatten wie Vogelschwingen, Blicke hinter Sonnenbrillen. Und dann der andere Mann im Park, der ihr den Schmuck zugesteckt hat. „So viel du brauchst …“, hatte er gesagt. Seine Stimme kam ihr bekannt vor. Der eine machte ihr Angst. Der andere Geschenke.
Was hatte das alles zu bedeuten? Die Panikattacke heute im 109er hatte ihr klargemacht, wie brüchig sie geworden war. Und dass es da draußen etwas gab, was lauerte. Näher kam.
Der Schreck kam mit den toten Frauen. Erst die im Fleet. Zwar kannte Gesche Gerda Lehnbrinck nicht persönlich, aber diese hatte auch bei einem Hospizdienst gearbeitet. Zufall? Aber dann Irina. Gesche war der hübschen, fröhlichen Russin bei der Arbeit begegnet. In ihrer offenherzigen Art hatte Irina nicht nur von ihrem Ehemann, sondern auch von ihrem Liebhaber erzählt. Einmal hatte sie ihn Gesche vorstellen wollen, als …
Gesche kroch ein eisiges Gefühl über den Rücken. Irinas Liebhaber! Schlagartig hatte sie das Bild vor Augen, wie er auf der anderen Straßenseite auf die Deutschrussin gewartet hatte. Ein Mann in dunkler Kleidung mit einer Sonnenbrille. Doch das war nicht das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte … Jetzt fügte sich die Erinnerung in ihr jüngstes Erleben. Der Mann, dem sie begegnet war, nach der Alten mit der Plastikkrähe auf dem Balkon. Der auf sie gewartet zu haben schien. Irinas Liebhaber?
Ihre Hände, die die Teetasse umklammerten, bebten. War Irina von ihrem Liebhaber umgebracht worden? Und was wollte er jetzt von Gesche? Warum verfolgte er sie?
Unwillkürlich spähte sie nach unten auf die Straße. Stand dort in dem Hauseingang, neben dem Snackladen, nicht jemand? Nein. Oder doch? Da, eine Bewegung. Sie wich hinter den Vorhang zurück. Der Schleier des Regens ließ Formen und Schatten ineinander verfließen. Unmöglich zu sagen, was wirklich war oder welche Schemen den Tiefen ihrer Einbildung entsprangen.
Gesche zwang sich zur Ruhe. Sie könnte zur Polizei gehen. Aber was konnte sie schon wirklich erzählen? Dass sie einen Mann mit einer Sonnenbrille gesehen hatte. Na, und? Ihr fiel der dicke, ungepflegte Polizist aus dem Bus wieder ein. So einem grässlichen Menschen würde sie sicher nichts erzählen. Nein. Es wäre so oder so dumm, die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf sich zu lenken. Nicht mit den beiden Pässen in der Schatulle, nicht mit den Erbschaften. Sie war überzeugt, nichts Böses getan zu haben. Aber ob die Polizei das ebenso sehen würde?
Unruhig betrachtete Gesche die Welt jenseits der Scheibe. Sie hatte bis jetzt doch alles allein geschafft. Sie hatte ihr neues Leben unter Kontrolle. Sie hatte sogar gehofft, mit ihrer jetzigen Arbeit den Tod unter Kontrolle zu haben; das Ende, den Betrug, das Scheitern. Doch das war eine Illusion gewesen. Irgendwo dort draußen lauerte das Ende auf sie, der fremde Tod, still und geduldig wie ein geflügelter Schatten.
„Krähen, Dohlen und Elstern sieht man allgemein als ,Totenvögel‘ an, wie überhaupt die schwarzen Vögel.“ (Sechstes und siebentes Buch Moses, 120)
Kommissarin Philine Clausen blies in die Backen, schloss die Browserseite und gab erneut „Mythologie + Krähe“ in die Suchmaske von Ixquick ein. Während sich die Ergebnisse aufbauten, schaute sie zum Fenster. Es war bereits so dunkel, sodass sie sich selbst in den Scheiben sehen konnte, wie sie allein in dem hell erleuchteten Büro saß. In feinen Rinnsalen lief der Regen über ihrer Spiegelung am Glas herab. Es schien, als schmelze Philine. So fühlte sie sich auch. Sie zerlief, unter fiebriger Arbeitshast. Zu viele Fälle gleichzeitig, zu wenig Leute für eine Arbeit, bei der es nie einen Gewinner geben würde. Meran war nicht wieder aufgetaucht, sicher war er nach Hause auf die andere Seite der Elbe gefahren. Anders als ihr Kollege glaubte Philine Clausen nicht, dass Kettels seine Frau umgebracht hatte. Aus Eifersucht? Weil sie ihn betrogen hatte? Dafür geht er doch nicht erst mit ihr in ein Konzert und erwürgt sie hinterher in der Krypta. Um schließlich bei der Vernehmung mit einem Herzinfarkt tot umzufallen. Das passte alles hinten und vorne nicht. So schnurgerade waren Leben, Mord und Tod niemals.
Sicher, man könnte das alles irgendwie hindrehen und den Fall abschließen, ab in die Erfolgsstatistik, damit die Etatmacher des Senats zufrieden waren. Aber die Sache hatte einen Haken. Und der hieß: Gerda Lehnbrinck und die Sterbebegleitung. Philine Clausen sah dort den Zusammenhang zwischen Gerda und Irina. Und wenn ein Täter zwei Morde beging, konnte es gut sein, dass noch ein dritter folgte. Das war zwar selten; Serienmörder gab es weit, weit seltener, als Fernsehen und Literatur es einem glauben machte wollten. Doch es gab sie. Diese Möglichkeit ließ der Kommissarin keine Ruhe.
„Gut, was haben wir …“, murmelte Philine. Gerda und Irina arbeiteten bei einem ambulanten Hospizdienst sowie einem häuslichen Pflegedienst. Beide hatten mit kranken und gebrechlichen Menschen zu tun. Die Nachfragen bei den Diensten aber hatten nicht erkennen lassen, dass die Frauen sich je begegnet waren. Und da war das andere. Das Wesen. Der Mann oder Geist – mit dem dunklen Umhang. Der Krähenmann.
„Oder eine Krähenfrau, so rein politisch korrekt“, sagte sie halblaut in den leeren Raum.
Sie wandte sich den Links zu, die ihre Suche aufgelistet hatte.
Als Erstes stieß sie auf die Geschichten über Unglücksvögel und Todesboten. Raben und Krähen waren Begleiter von Hexen und brachten die Pest. Diese negative Sichtweise auf die klugen Vögel war offenbar mit dem Christentum in das Denken der Menschen eingezogen. Bei den Germanen waren die Raben heilig, und der oberste Gott, Wotan, hielt zwei von ihnen als Dauerbegleiter – quasi Assistenten. Philine grinste. Wotan konnte sich sogar in einen Raben verwandeln. Auch bei den Kelten waren die schwarzen Vögel hoch angesehen. Feen verwandeln sich in Krähen, um Botschaften aus der Anderswelt zu überbringen.
„Anderswelt …“ Sie schmeckte dem Wort nach. Damit war die Totenwelt gemeint. Botschaften aus dem Jenseits? Ganz schön gruselig.
Auch Morrigan, die Göttin der Unterwelt, konnte sich in eine Krähe verwandeln und holte sich so die Seelen der Getöteten.
„Der Teufel ist eine Frau? Ich ahnte es …“
Manchen der Ermordeten hauchte Morrigan wieder Leben ein und schickte die leblosen Körper zurück auf das Schlachtfeld.
„Interessante Idee, aber das ist wohl kaum die Botschaft, die Mister Flattermann uns übermitteln will.“
Bei den nordamerikanischen Indianerstämmen galten die Krähen als Hüter der heiligen Gesetze. Menschen, die an diesem geheimen Wissen teilhaben wollten, mussten es von den Krähen erbitten. Besonders wichtig waren die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit des Wunsches. Wenn die Krähe überzeugt war, dass der Mensch es wert war, teilte sie ihm sein Wissen mit.
Philine Clausen schaute wieder aus dem Fenster und fragte sich, über was für ein Wissen der Krähenmann verfügte und wie sie ihn von ihrer Ernsthaftigkeit überzeugen könnte. Dann stellte sie sich vor, wie sie all das Peter Meran erklären würde, und hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie der darauf reagieren würde.
Ein Finger und ein Kopf kamen darin vor.
„Feierabend“, sagte sie und stand entschlossen auf.
… eine Krähe!
Ihm wurde kalt, eiskalt, als der große Vogel sich mit sanftem Schwung auf dem Fensterbrett niederließ und durch die geöffneten Flügel hindurch seinen schwarzen Blick direkt auf ihn richtete. Gleichzeitig wurde das Wispern, das er vernommen hatte, lauter. Es schien direkt in seinen Kopf zu dringen. Er verlor jegliches Zeitgefühl.
Wie in einem Traum setzten sich die Bilder seiner Erinnerung neu zusammen. Er sah die Frauen, die er geliebt, ihre jungen, hilflosen Körper, die er in Besitz genommen hatte. Dann sah er die anderen – die, die er getötet hatte. Auch sie hatte er in Besitz genommen, aber auf eine andere, endgültige Art. Er begriff, dass der Tod die absolute, die größte Freiheit war, die er sich nehmen konnte. Als der, der er war, konnte er alles. Endlich hatte er seine Bestimmung gefunden.
Das Gefühl von Macht und unbesiegbarer Überlegenheit glühte in ihm empor und entlud sich in einem Lachen. Der Vogel sprang auf und verschwand mit sattem Flügelschlag in der Nacht.
Er trat an das offene Fenster. Der Regen hatte aufgehört, die Luft roch neu und rein. Alles hatte nun seinen Platz, alles ergab einen Sinn. Er dachte an die Frau, mit den meerwasserfarbenen Augen. Augen, die zu viel sahen. Er wusste, was er zu tun hatte.