In keiner anderen Stadt leben prozentual so viele Witwen wie in Hamburg. Viele leiden unter Einsamkeit und Armut. Wie fühlen sich Frauen, die ihren Mann verloren haben? Wie gehen sie mit dem Verlust um?
Hamburg. Es war an einem verregneten Tag im Dezember 1990, als Marianne Engels ihren Mann verlor. Er erlitt im Schlaf einen Herzstillstand. Ohne Vorerkrankung, ohne Vorwarnung, ohne Abschied.
Es passierte eine Woche vor Weihnachten, der Tannenbaum und die Geschenke waren längst besorgt. Doch plötzlich war Marianne Engels mit 56 Jahren Witwe, von einem Tag auf den anderen allein in ihrer Hamburger Wohnung. „Und so fühlte ich mich auch“, sagt sie.
Es sind meist die Frauen, die aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung verwitwen. Ihr Anteil an den zurückbleibenden Partnern ist mit 82,5 Prozent in der Hansestadt am höchsten, leicht über dem Bundesschnitt.
Neben Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit droht vielen dieser Frauen Armut. „Nicht alle schöpfen neuen Lebensmut“, sagt Ursula Lenz von der Bonner Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO).
Laut Zensus 2011 gibt es hierzulande 5,8 Millionen verwitwete Menschen, darunter 4,8 Millionen Frauen. In Hamburg sind es 107.510, darunter 88.750 Frauen. Die große Mehrheit ist älter als 65 Jahre.
Bundesweit beträgt der Anteil der Verwitweten an der Gesamtbevölkerung 7,3 Prozent, in der Hansestadt 6,3 Prozent. Während Männer rasch nach einer neuen Partnerin suchen, bleiben Frauen lange allein – oft für immer. Psychologen sprechen davon, dass Witwer eher verdrängen und Witwen Erklärungen suchen.
„Er ist nicht mehr da“
So war es auch bei Marianne Engels. Sie erinnert sich noch genau an die ersten Wochen nach dem Tod ihres Mannes: „Am schlimmsten war das Aufwachen am Morgen und der immer wiederkehrende erste Gedanke: Er ist nicht mehr da.“
Sie wollte es nicht wahrhaben. „Er hat mir stets kleine Zettel mit lieben Worten geschrieben und versteckt. Und nach seinem Tod habe ich wie besessen die ganze Wohnung abgesucht – in der Hoffnung, irgendwo noch einen Zettel zu finden oder eine Nachricht“, erinnert sich die heute 79-Jährige. Doch sie fand keinen Zettel mehr.
Trotz der rührenden Hilfe ihrer drei Kinder zog sie sich in ihre eigene Welt voller Erinnerungen zurück, brach Kontakte ab, ging selten raus. „Ich wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, hatte für nichts mehr Interesse. Ich habe stundenlang die Wände angestarrt oder aus dem Fenster oder ins Leere“, beschreibt sie.
Früher hatte sie alles gemeinsam mit ihrem Mann gemacht, ohne ihn fehlte ihr jegliche Antriebskraft. Sie hatte zudem das Gefühl, dass ihr jeder ansieht, dass sie nun eine Witwe ist. „Selbst bei Familienfeiern fühlte ich mich wie ein halber Mensch. Jeder hatte seinen Partner bei sich. Ich nicht.“
Spezielle Angebote für Witwen
Dabei geht eine Großstadt wie Hamburg mit zahlreichen Angeboten durchaus auf die Bedürfnisse von Witwen ein, etwa mit Trauer- oder Selbsthilfegruppen in diversen Einrichtungen.
Vereine wie I.K.A.R.U.S bieten Frauengruppen an, die sich zu Ausflügen und Spaziergängen treffen. Ferner sind das Seniorenbüro und der Landes-Seniorenbeirat nicht nur Anlaufstellen für ältere Menschen im Allgemeinen, sondern auch für Witwen im Speziellen.
„Das Angebot ist riesig, auch das kostenlose, man muss sich nur überwinden“, sagt Angelika Beier. Die 67-Jährige, selbst seit drei Jahren Witwe, ist Mitglied im Landes-Seniorenbeirat und engagiert sich in einem Sportverein.
Ihre Lust auf Aktivitäten, ihr Temperament und ihr Border-Collie-Mischling Bruno hätten ihr geholfen, nach dem Tod ihres Mannes nicht in ein Loch zu fallen. „Ich musste mich allerdings daran gewöhnen, dass ich niemanden mehr zum Reden habe, wenn ich nach einem Tag voller Eindrücke nach Hause komme“, beschreibt die zweifache Mutter ihre neue Situation.
Dafür müsse nun ihre beste Freundin herhalten. „Ihr erzähle ich, was ich erlebt und wen ich getroffen habe“, sagt sie.
Angelika Beier hat die Tatsache, dass sie jetzt Witwe ist, schnell akzeptiert. „Das lag aber auch daran, dass ich mich aufgrund der langen Krankheit meines Mannes darauf einstellen konnte, dass sein Leben zu Ende geht“, erklärt die 67-Jährige.
Vielen Witwen droht Armut
Das sei ein Unterschied zu Frauen, die ihren Mann überraschend verlieren. Durch ihre Arbeit im Niendorfer Turn- und Sportverein erlebt sie immer öfter, dass Witwen auch aus anderen Gründen plötzlich wegbleiben.
„Nachdem sie lange im Verein waren, können sie sich auf einmal den Beitrag nicht mehr leisten“, erklärt Beier. Denn der Tod des Partners bedeutet für manche Frauen auch einen finanziellen Einschnitt. Die eigene Rente plus die Witwenrente reichen nicht mehr aus, den Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
„Manche Frauen müssen ihre Wohnung aufgeben, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Sie werden dadurch aus ihrem vertrauten sozialen Umfeld herausgerissen, müssen sich dort niederlassen, wo sie niemanden kennen“, sagt Beier. Sich dann aufzuraffen, neue Kontakte zu knüpfen, schafften die Wenigsten. „Also ziehen sich diese Witwen in ihre kleine Wohnung zurück.“
Darin sieht auch die seniorenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion in der Bürgerschaft, Kersten Artus, ein zunehmendes Problem: „Alleinstehende ältere Frauen haben ein hohes Armutsrisiko, weil sie oft aufgrund unterbrochener Lebensläufe nur über eine geringe Rente verfügen.“
Das Armutsrisiko liege bei acht Prozent. Die Durchschnittsrente einer Frau in Hamburg beträgt derzeit 694 Euro, bei Männern 731 Euro. „Die Armutsgrenze liegt bei 900 Euro. Wir erwarten eine erhebliche Zunahme an armen Alten, insbesondere Frauen, verursacht durch Demografie, Minijobs, Teilzeit, Erziehungs- und Pflegezeiten“, sagt Artus.
Prognose: Rentenniveau wird sinken
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) wird sich das Rentenniveau bis 2030 um weitere zwölf Prozent vermindern. „Bald lebt jeder zehnte Rentner von Grundsicherung“, sagt Artus. „Und wenn nicht umgehend umgesteuert wird, werden wir in wenigen Jahren eine Gesellschaft sein, die ein Großteil ihrer Alten in Armut und Krankheit leben lässt.“
Zumindest nach Ansicht des Senats hat Hamburg erkannt, dass sich die Stadt verändert. Mit dem Konzept „Hamburg 2030: Mehr. Älter. Vielfältiger“ hat Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) eigenen Angaben zufolge „die Diskussion darüber eröffnet, wie wir die Weichen für die Zukunft richtig stellen“.
Demnach soll die Stadt nicht in getrennte Quartiere unterschiedlicher Altersgruppen, Herkunftsländer und Lebenschancen zerfallen, sondern die Menschen zusammenführen. Und weil sich gerade ältere Menschen ihrem Wohnumfeld verbunden fühlten, seien barrierefreie Wohnungen in Zukunft noch wichtiger.
Das fordert auch Oppositionspolitikerin Artus: „Derzeit gibt es nur 140 Servicewohneinrichtungen und 11.000 altengerechte Wohnungen in Hamburg.“ Doch Ältere müssten in ihren vertrauten Quartieren wohnen bleiben können.
„Eine weitere Verdrängungen wäre wirklich fatal. Es es ist wie eine Abschiebung“, sagt Artus. Die Landeschefin der Grünen, Katharina Fegebank, ergänzt: „Mit zunehmendem Alter steigt besonders der Anteil der alleinstehenden Frauen. So sind in Hamburg 69 Prozent der Frauen über 80 Jahre alleinlebend. Für diese Gruppe brauchen wir soziale Angebote. Schließlich ist die Gefahr der gesellschaftlichen Vereinsamung bei Älteren besonders hoch.“
Blendet Hamburg den demografischen Wandel aus?
Nach Einschätzung des Trendforschers Peter Wippermann ist Hamburg – laut Statistischem Bundesamt die Hauptstadt der Altersarmut – wie alle Kommunen aktuell kaum auf die wachsende Gruppe der Senioren eingestellt. „Wir blenden den demografischen Wandel konsequent aus“, sagt der Professor für Kommunikationsdesign und begründet:
„Es ist ein ökonomisch herausforderndes Thema. Und wir haben individuell das Gefühl, dass wir sowieso nie dazugehören werden. Keiner möchte alt werden, keiner möchte altersarm werden.“
Das wirkt sich Wippermann zufolge auf Witwen aus, deren Existenz wir ebenfalls ausblenden: „Wir beobachten zwei große Veränderungen: Zum einen gestatten wir Kindern nicht mehr, eine unbeschwerte Kindheit zu haben. Zum anderen billigen wir uns selbst nicht mehr zu, ein Recht auf einen gemütlichen Lebensabend zu haben.“
Ursula Lenz von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen kümmert sich seit fast 40 Jahren um ältere Menschen. Sie bemerkt immer wieder, dass Menschen den Kontakt zu Witwen meiden. Und das, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem Tod umgehen sollen.
Hemmungen im Umgang mit dem Tod
Lenz wünscht sich, dass die Gesellschaft den Verlust eines Menschen natürlicher erlebt. „Dann begegnen wir auch Witwen nicht mehr so gehemmt und unbeholfen“, sagt sie. Ob und wie eine Witwe dann wieder Fuß fasst, hängt davon ab, wie sehr sie zuvor sozial eingebettet war.
„Die Frauen, die sich noch zu Lebzeiten ihres Mannes vollständig auf diese Ehe konzentriert haben, haben große Probleme, wieder neuen Lebensmut zu schöpfen. Und wenn diese Witwen noch das Gefühl haben, dass andere sie auf einmal meiden, kann das zur Vereinsamung führen“, sagt Lenz. Doch Rückzug sei der falsche Weg.
Ähnlich wie Angelika Beier griff auch Lore Bünger nach dem Tod ihres Mannes auf ein breites Netzwerk aus Familie, Freunden und Vereinen zurück. „Diese Kontakte habe ich aufrechterhalten ebenso wie meine Interessen“, sagt die heute 91-Jährige, die sich unter anderem im Seniorenbüro in der Zeitzeugen-Börse engagiert.
„Man lebt ja noch“
Deshalb sei sie nach dem Tod ihres Mannes, mit dem sie fast 60 Jahre verheiratet war, nie allein gewesen. „Wer seinen Partner verloren hat, sollte trotz des großen Schmerzes wieder rausgehen. Denn man lebt ja noch“, sagt sie.
Marianne Engels brauchte sieben Jahre, um das zu begreifen. Dass sie es geschafft hat, hat sie der Hartnäckigkeit ihrer drei Kinder zu verdanken. „Sie haben mich immer wieder dazu gedrängt, rauszugehen. Eines Tages habe ich das gemacht.“
Dieser Schritt half ihr, ins Leben zurückzufinden. Sie begann zu malen, lernte Klavier spielen und entwickelte ein neues Selbstwertgefühl. Eine Freundin lockte sie schließlich zum Seniorentanz. „Ich blühte wieder auf. Ich spürte wieder so etwas wie Leben in mir. Das war wie eine Befreiung“, sagt die 79-Jährige, die sich sogar einer neuen Liebe öffnete. Dass sie „in dem Alter noch einmal Schmetterlinge im Bauch“ haben würde, hätte sie nie gedacht.
Sieben glückliche Jahre verbrachte sie mit einem Tanzpartner, bis er 2011 starb. Doch im Gegensatz zum plötzlichen Tod ihres Mannes hatte sie dieses Mal die Gelegenheit, sich von ihrem Freund zu verabschieden. Auch hat Marianne Engels inzwischen Freundinnen gefunden, die ihr Schicksal und ihre Gefühle teilen. Statt sich erneut zu verkriechen, hat sie gelernt, zu akzeptieren. Sie genießt das Leben wieder. „Es geht mir gut“, sagt die 79-Jährige.
(*Name von der Redaktion geändert)