Senator Ties Rabe steht in der Pflicht, den bedrohlichen Konflikt um die Stadtteilschule zu lösen
Schule und Bildung zählen seit jeher zu den Politikfeldern, die die meisten Emotionen hervorrufen. Das liegt zum einen daran, dass jeder über eigene Erfahrungen verfügt, liegen sie auch noch so lange zurück. Wenn es andererseits um die Zukunftschancen der eigenen Kinder geht, bleibt die abwägende Vernunft angesichts drohender oder auch eingebildeter Nachteile manchmal auf der Strecke.
In Hamburg kommt die bisweilen unselige Neigung der jeweiligen Senate hinzu, unausgegorene oder überstürzte Reformen Schülern, Eltern und Lehrern vor die Schultür zu kippen. Von den jahrzehntelangen ideologischen Grabenkämpfen etwa über das Für und Wider der Gesamtschule ganz zu schweigen. Umso höher war zu bewerten, dass sich CDU, SPD und Grüne 2010 zu einem „Schulfrieden“ entschlossen, der den Schulen weitgehende Abstinenz von Reformen der Schulstruktur zusicherte, jedenfalls das. Ja, dieser Schulfrieden, der in anderen Ländern Nachahmer fand, kam in Hamburg wahrlich nicht freiwillig zustande. Die führenden Parteien standen unter dem Druck des erst drohenden und dann auch erfolgten Neins der Bürger zu einer von ihnen ausgeheckten Strukturreform: der sechsjährigen Primarschule.
Es zählt zu den erfreulichen Ereignissen der Schulpolitik der vergangenen Jahre, dass der Schulfrieden nach dem Willen der drei Parteien weiterhin gelten sollte, obwohl die Messe der Primarschule gelesen war – und zwar für zehn Jahre. Und: Die ersten vier Jahre dieses Moratoriums, die bereits verstrichen sind, haben den Schulen durchaus gutgetan.
Die zum Teil schrillen Reaktionen auf die aktuelle Anmelderunde zu den fünften Klassen der weiterführenden Schulen mit dem kräftigen Plus für die Gymnasien lassen allerdings befürchten, dass es mit der Ruhe für die Schulen bald vorbei sein könnte. Die alten Kampfbegriffe werden schon entmottet. Walter Scheuerl, der erfolgreiche Streiter gegen die Primarschule, nennt die Stadtteilschule wieder „Einheitsschule“, die aus seiner Sicht ein minderwertiges Abitur anbietet. Er wünscht sich im Grunde die alte Trennung des dreigliedrigen Schulsystems zurück: Die Gymnasien kümmern sich um ein qualitätvolles Abitur, die Stadtteilschule um genau solche Haupt- und Realschulabschlüsse. Dort sei das Abitur bestenfalls eine nette Zugabe.
Auf der anderen Seite wittern diejenigen Morgenluft, denen eine einzige Schulform für alle Kinder schon immer gereicht hat, besser gesagt: das Nonplusultra ist. Linke und die GEW erklären das Zwei-Säulen-Modell für mehr oder weniger gescheitert, obwohl es erst seit wenigen Jahren die Chance zur Bewährung hat.
Die Debatte ist auch deswegen so aufgeregt, weil das Volksbegehren zur Wiedereinführung des neunjährigen Abiturs am Gymnasium absehbar ist. G9 wäre fraglos ein massiver Eingriff in die Schulstruktur, der die Stadtteilschulen weiter schwächen würde.
So sehr Schulsenator Ties Rabe (SPD) mit seinem Appell zu Mäßigung, Besonnenheit und Geduld recht hat: Er ist in der Pflicht, mehr zu tun. Die Diskussion über die Belastungen der Stadtteilschulen durch die Inklusion schwelt schon zu lange. Auf dem Rücken aller Schüler wird darüber debattiert, ob der deutliche Anstieg der Zahl sonderpädagogisch förderbedürftiger Kinder real ist oder nur Ausweis des Geschicks, an zusätzliche Ressourcen zu kommen. Eltern schreckt der Schwebezustand ab, obwohl es auch einzelne starke Stadtteilschulen gibt.
Was hindert Rabe also, Parteien und Verbände an einen Tisch zu holen, um endlich gemeinsam eine Strategie zur Stärkung aller Stadtteilschulen zu entwickeln? Hier könnten die Kombattanten ihre Fähigkeit zum Kompromiss beweisen. Das ist besser als eine Notenschwelle für den Zugang zum Gymnasium. Lehrer, Eltern und Schüler würden es der Politik vermutlich danken. Noch ist es nicht zu spät.
Der Autor leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts