Was wir aus dem Desaster um den elektronischen Gesundheitsausweis lernen sollten

Was darf unsere Gesundheit kosten? Eine einfache Frage, auf die es in der deutschen Vollkaskoversicherung nur eine Antwort geben kann: Alles, was wir haben. Schließlich hat, auf den einzelnen Patienten heruntergebrochen, das letzte Hemd auch keine Taschen. Geld spielt kaum eine Rolle, wenn man Leben retten kann. So werden aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung teure Therapien für Schwerstkranke finanziert, werden Frühchen mit aufwendiger und kostspieliger Behandlung aufgepäppelt. Und wer würde es wagen, seine Stimme dagegen zu erheben?

Das Desaster um die elektronische Gesundheitskarte bringt diese Kernfrage zurück: Wie ist das Verhältnis von moderner Medizin und Wirtschaftlichkeit? Die e-Card ist nach juristischer Expertise und nach der geltenden Gesetzeslage in Deutschland und Europa rechtswidrig. Gut, das Foto darauf ist es. Das klingt trivial. Mit einem lästigen Formfehler könnte also ein milliardenteures Mega-Projekt kippen.

Passieren wird das nicht. Man wird einen Weg finden, die Karte kompatibel zu machen mit Datenschutzbestimmungen, mit Gesetzen, mit neuer Software. Zur Not biegt man eben die juristische Realität zurecht. Da sind der Politik schon ganz andere Volten gelungen.

Viele sagen: Da die Karte nun einmal eingeführt ist, wäre es zu teuer, sie wieder zu ändern oder einzukassieren. Diese normative Kraft des Faktischen gilt aber nicht. In deutschen und europäischen Datenschutzbestimmungen steht glasklar, dass persönliche medizinische Daten ein noch höheres Gut als jedes Wirtschaftlichkeitsgebot sind. Manche unken, dass der gläserne Patient ja ohnehin Realität ist, dass seit den Ausspähaffären, die Edward Snowden aufgedeckt hat, niemand vor irgendwas sicher ist. Zynisch klingt das, und es bedroht die Freiheit.

Bei der elektronischen Gesundheitskarte ist nicht nur der Datenschutz gefährdet. Es geht um die Patientensicherheit. Das ist nicht trivial.

Zwei Beispiele: Mit der e-Card sammelt ein Patient, freiwillig, seine medizinischen Daten. Aber weil ihm das Rezept für Viagra oder ihr die Brustvergrößerung peinlich ist, fehlen diese Angaben. Möglicherweise ist auch das starke Anti-Depressivum nicht vermerkt, das jemand gegen sein Seelenleiden geschluckt hat. Dann kann es passieren, dass ein Arzt unwissentlich falsch behandelt und der Patient sogar daran stirbt. Und soll künftig die leicht demente Dame im Altenheim erst ihren PIN-Code in das Lesegerät eingeben, um die Notfalldaten abzufragen, wenn der Arzt nach ihrem Sturz ihr Leben retten will?

Der Foto-Skandal zeigt außerdem, dass entgegen allen Versprechungen die Karte Missbrauch nicht verhindert. Die Ärzte, so ist auch die Gesetzeslage, sind keine Hilfssheriffs der Krankenkassen. Sie können Fotos und Personalausweise nicht prüfen.

Es ist wie bei den anderen Technik-Flops in Deutschland. Die Lkw-Maut mit dem kompliziertesten aller denkbaren Systeme, der inzwischen eingestellte elektronische Einkommensnachweis „Elena“ und demnächst wohl auch die Pkw-Maut sind alle mit Anforderungen überfrachtet worden. So hatten auch Politik, Krankenkassen, Ärzte und vermeintliche Experten von Anfang an auf die falsche Karte gesetzt.

Bislang kann die e-Card nicht mehr als die alte Karte. Und dafür wurden Milliarden ausgegeben. Das muss jetzt im politischen Raum aufgeklärt werden. Die Kassen tun, was man ihnen sagt. Schlimmer noch: Sie wurden unter Druck gesetzt. Ihnen wurden hohe Strafen angedroht, wenn sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht x Prozent ihrer Versicherten mit den Karten ausgestattet haben. Ist diese Gangart eines freiheitlichen, gut organisierten Gesundheitssystems würdig?

Der Autor ist stellvertretenderLeiter der Online-Redaktion