Eine Glosse von Mark Hübner-Weinhold
Ich habe es bereits vermisst: das unnachahmlich dröhnende Geräusch, wenn die Aluleiste an der Schneeschippe unseres Nachbarn über die Gehwegplatten aus Beton kratzt. Und das zu einer Zeit, wenn den verbliebenen Vögeln noch das frühmorgendliche Zwitschern in der Kehle gefriert. Als Grundstückseigentümer nimmt der Mann seine Verkehrssicherungspflicht eben sehr ernst.
Auf jeden Fall nimmt er sie deutlich früher ernst als ich. Denn bei jedem Schneefall animiert mich erst besagtes Geräusch zum morgendlichen Wintersport: Es reißt mich aus dem Schlaf, vermittelt mir als akustischer Schneemelder ein sofortiges Lagebild auch ohne Blick aus dem Fenster und verursacht binnen Sekunden ein schlechtes Gewissen, noch nicht die Schippe geschwungen zu haben wie der nachtaktive Nachbar.
Derart aufgeschreckt, beginnt fortan ein Abwägungsprozess beinahe hamletscher Dimension: schon schippen oder nicht schippen?, das ist die Frage. Da setzt zum einen der Fußgängerverkehr deutlich vor 7 Uhr ein, zum anderen lehrte mich die Erfahrung der vergangenen Winter, Räumniederlagen durch geschickte Verzögerungstaktik zu vermeiden.
Was eine Räumniederlage ist? Das ist das Gefühl, wenn man in schweißtreibender Arbeit bei arktischer Temperatur den eingeschneiten Bürgersteig geradezu aseptisch geräumt hat; während man dann erschöpft und stolz auf das Ergebnis dieses Frühsports blickt, rollt das Ungemach mit lautem Dröhnen heran: Ein Räumfahrzeug schiebt den verdreckten Schnee der Fahrbahn rücksichtslos auf den gerade gesäuberten Gehweg. Das ist, wie in der Nachspielzeit des Champions-League-Finales zwei Tore von Manchester United zu kassieren.