Phantombild des Verhaltens: Bei Mord, Entführung oder Sexverbrechen kommen bei der Hamburger Polizei auch Psychologen zum Einsatz. Sie versuchen zu entschlüsseln, wie ein Täter tickt. Eine Arbeit der kleinen Schritte.
Hamburg. Jeder Mörder, jeder Vergewaltiger, jeder Entführer verrät mit seiner Tat auch etwas über sich. Warum fällt die Wahl gerade auf diesen Tatort, warum auf dieses Opfer, warum nimmt er ein Messer, eine Pistole, einen Hammer? Claudia Brockmann und Elisabeth Rebernig versuchen, aus solchen Verhaltensmustern Rückschlüsse zu ziehen: Wie tickt der Täter? Was ist sein Motiv? Und wo könnten wir ihn aufspüren? Auf der Suche nach Verbrechern tragen die Hamburger Kriminalpsychologinnen akribisch Informationen zusammen – und erstellen damit eine Art Phantombild des Verhaltens.
Die Spezialistinnen der Dienststelle „Kriminalpsychologische Einsatz- und Ermittlungsunterstützung“ am Landeskriminalamt kommen bei der ganzen Bandbreite des Bösen ins Spiel – bei Geiselnahmen und Entführungen, Mord und Sexverbrechen, Stalking und Brandstiftungen. Dienststellen-Leiterin Brockmann etwa war schon bei den Ermittlungen um die Entführung des Hamburger Millionenerben Jan Philipp Reemtsma dabei, auch in das Verfahren gegen den Kaufhaus-Erpresser Dagobert war die 53-Jährige eingebunden.
Die Psychologinnen stellen Fragen, die über die normale Ermittlungsroutine ihrer Kripo-Kollegen hinausgehen, und sie vertiefen sich in das Verhalten eines Täters – um so einen Schlüssel zu seiner Psyche zu bekommen. „Wir analysieren aber nicht die gesamte Persönlichkeit, sondern nur einen Verhaltensausschnitt“, betont Brockmann. „Wir sind uns bewusst, dass wir lediglich Hypothesen erstellen und unser Erklärungsmodell mit jeder neuen Information kippen kann.“
Mit dem Berufsbild des Profilers, das in vielen Fernsehserien beschrieben wird, wollen sich Brockmann und Rebernig daher nicht vergleichen lassen. Der Ausdruck sei den amerikanischen Kollegen vorbehalten, die anders vorgehen. „Der Täter ist 1,80 Meter groß, wahrscheinlich 35 Jahre alt und hat ein viertüriges Auto – das sind Aussagen, die machen wir einfach nicht“, sagt Brockmann.
Stattdessen analysieren die Psychologinnen sämtliche Verhaltensschritte einer Tat im Detail. Wie gut ist sie geplant? Was passiert wann? Und wie? Wenn der Täter sein Opfer etwa mit Klebeband knebelt: Kann er die Schreie nicht ertragen, oder will er totale Kontrolle? Und was bedeutet es, wenn er sich später in die Küche des Opfers setzt und dort etwas trinkt? „Es geht darum, aus dem Verhalten des Täters Rückschlüsse darauf zu ziehen, was und wie er denkt und was und wie er fühlt“, erklärt Rebernig. Dabei gilt für die 43-Jährige: „Immer mit Abstand, immer mit Distanz.“
Das ist auch oberstes Gebot bei der sogenannten Risikoeinschätzung, die Brockmann und Rebernig vorrangig beschäftigt. Wie groß ist etwa die Gefahr, dass sich die Beamten bei einem Einsatz plötzlich einer Schusswaffe gegenüber sehen? Oder dass ein Brandstifter erneut zuschlägt? Welche Gefahr geht von einem Stalker aus – und wie umfangreich sollten die Schutzmaßnahmen für Verfolgte sein? Die Spezialistinnen unterstützen ihre Kriminalisten-Kollegen außerdem bei Vernehmungen: Welche Fragen sind in welcher Reihenfolge sinnvoll, und wie lässt sich jemand überhaupt zum Reden bringen?
Gerade die – enorm schwierige – Befragung von Kindern ist für Rebernig ein „Steckenpferd“. Sie will mit den Mythen aufräumen, Kinder müssten geschont werden und seien ohnehin keine guten Zeugen. „Es ist Blödsinn, dass sie bei einer Vernehmung automatisch retraumatisiert werden“, sagt die 43-Jährige. „Es kommt eher zu einer Retraumatisierung, wenn ihnen ein weiteres Schweigegebot auferlegt wird – ähnlich wie es der Täter zuvor vielleicht schon getan hat.“
Und welche Fälle kriegen die Psychologinnen selbst nur schwer aus dem Kopf? Für Brockmann stehen Entführungen ganz obenan – mit der Angst des Opfers, der Unsicherheit der Angehörigen und der alles überstrahlenden Sorge um das Leben des Entführten. Rebernig hadert, wenn sie mit an der Aufklärung eines Mordes herumknobelt und einfach nicht weiterkommt: „Das ist, als ob man vor einer Glasscheibe steht.“