Der Pastor der St. Pauli-Kirche gab 80 Afrikanern Obdach und wurde zur Symbolfigur für den Protest gegen die europäische Flüchtlingspolitik. Auch nachdem die Männer ausgezogen sind, kämpft er für ein anderen Umgang mit Flüchtlingen.

St. Pauli Er hat sie schon oft erzählt, die Geschichte von diesem 2. Juni. Einem Sonntag. Als plötzlich zwei Dutzend Afrikaner vor dem Portal der St. Pauli-Kirche standen. „Was hätte ich denn tun sollen“, sagt Sieghard Wilm, 48, „sie weg schicken?“ Es ist eine rhetorische Frage. Der Pastor, einer von zweien auf dem Pinnasberg, hat die Tür aufgemacht für die Flüchtlinge, die monatelang auf Hamburgs Straßen gelebt hatten. Die ersten Helfer kamen, und noch am gleichen Abend weitere Flüchtlinge. Fast 180 Nächte lang schliefen sie auf dem Kirchenboden, in Schlafsäcken und auf Isomatten. 80 Männer, manchmal mehr. Die Bilder gingen durch die Republik. Es war Lampedusa auf St. Pauli.

„Es ist Aufgabe der Kirche, den Notleidenden zu helfen“, sagt Sieghard Wilm. Es hört sich an wie eine Mission. Und genau das ist es. Er ist derjenige, der sich seit jenem Junisonntag am präsentesten für die Flüchtlinge einsetzt. Man könnte auch sagen, ihnen eine Stimme gibt. Über die Grenzen Hamburgs hinaus steht der Pastor dafür, wie man das christliche Selbstverständnis von Nächstenliebe und Barmherzigkeit mit Leben füllt. Es gibt viele Fotos, auf denen er mit seinen Gästen, wie er sie nennt, zu sehen ist. Und dem Transparent „Embassy of Hope“ (Botschaft der Hoffnung). Es sind nicht wenige, die sich deswegen der Kirche wieder zugewandt haben.

Aber er ist auch einer, der polarisiert. Die Frage, ob die Flüchtlinge bleiben dürfen, hat Hamburg gespalten. Und auch innerhalb seiner Kirche ist das politische Engagement nicht unumstritten. Denn plötzlich ging es nicht mehr nur darum, die europäische Flüchtlingspolitik mit ihrer Abschottungsstrategie aus der Ferne zu kritisieren – das Nachtasyl für die Lampedusa-Flüchtlinge war von Anfang an auch eine Konfrontation mit SPD-Bürgermeister Olaf Scholz und seinem Innensenator Michael Neumann. Beide hatten früh klargemacht, dass sie Sonderreglungen ablehnen für die Gruppe von insgesamt 300 Männer aus Ghana, Mali oder Benin, die als Wanderarbeiter nach Libyen gekommen waren, in den Bürgerkriegswirren nach Italien gelangten und von dort nach Hamburg. Die Gesetze sind nun mal so. Und die St.-Pauli-Kirche und ihr Pastor wurden zum Symbol des Protestes dagegen. Da war bei manchen eine Grenze überschritten.

„Es wurde so verstanden, dass wir das Problem gemacht hätten“, sagt Wilm. Er sagt auch, dass ihm die Naivität der ersten Wochen ausgetrieben worden sei, als er noch geglaubt habe, es werde eine schnelle Lösung für die Männer geben, die er unter den kirchlichen Schutzschirm geholt hatte. Sie blieben den ganzen Sommer. Einen African Summer lang, sagt der Pastor. Er kennt den Kontinent, war während seines Studiums ein Jahr Gast in Ghana. Jetzt sitzt er in seinem Amtszimmer. Aus dem Fenster sieht man, wie die Hafenkräne sich drehen, die Palmen von Park Fiction und über der Elbe die Weite des Himmels. Er guckt oft raus.

„Gute Flüchtlinge, böse Flüchtlinge. Gute Helfer, böse Helfer. Da muss man aufpassen“, sagt der Sohn frommer Altpflingstler, der im schleswig-holsteinischen Leezen aufgewachsen ist. Seit mehr als zwölf Jahren ist er Kiezpastor, wohnt mit seinem Lebenspartner im ersten Stock des Backsteinbaus direkt am Kirchhof. Für ihn schlägt auf St. Pauli das Herz der Stadt. „Die Themen Hamburgs finden hier ihre Bühne“, sagt er und dass er in den vergangenen Monaten erlebt habe, wie aus der Unterstützung für die Flüchtlinge eine Bürgerbewegung geworden ist, die ein Zeichen setzen will für eine offene tolerante Gesellschaft. Eine ungewöhnliche Melange, aus Christen und Moslems, Menschenrechtsorganisationen, den Kickern vom FC St. Pauli, Prominenten wie Jan Delay und Linksautonomen. Wie eine Welle muss sich das angefühlt haben, und Wilm hat sie gesurft.

Bis zum Herbst nach dem African Summer. Sieghard Wilm liebt es, Situationen in Botschaften zu verwandeln. „Belagerungszustand“ nennt er sein drittes Bild des vergangenen Jahres. Wenige Tage, nachdem vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 360 Bootsflüchtlinge ertrunken waren, hatte die Polizei in Hamburg angefangen, Flüchtlinge zu kontrollieren. Auch vor der St. Pauli-Kirche. Wilm mahnte Besonnenheit an. „Aber es war ein unglaublicher Druck, der auf uns Pastoren lag“, sagt er. Da ist es auch gewesen, dass er mögliche Abschiebungen als „Deportationen“ bezeichnet hat. Der wortmächtige Gottesmann in einer Reihe mit denen, die auf der Straße Gewalt gegen Polizisten übten? Er sagt, er habe auf Englisch von „deportation“ gesprochen. Er findet, das ist etwas anderes. Trotzdem: Interviews gab es erstmal nicht mehr. Nordkirchen-Bischöfin Kirsten Fehrs schaltete sich ein, verhandelte mit dem Innensenator einen „realpolitischen Vorschlag“, wie Wilm es nennt. „Sonst wäre die Situation eskaliert.“

Vielleicht ist es auch nur eine Winterpause. Mehr als 70 Flüchtlinge haben sich – wie vom Senat gefordert – inzwischen bei den Behörden gemeldet. Sie erhielten eine Duldung, ihre Aufenthaltsverfahren laufen. Und sie sind ausgezogen aus ihrem Bettenlager unter dem Altar. Die meisten von ihnen leben in Containern auf dem Gelände der St. Pauli-Kirche und zwei weiterer Gemeinden. Andere sind abgetaucht. Er wisse nicht wohin, sagt Wilm. Ist er letztlich doch gescheitert, weil es die geforderte Bleiberechtslösung für die gesamte Gruppe nicht geben wird? Sieghard Wilm schüttelt den Kopf, sein Blick schweift wieder aus dem Fenster. „Ich habe immer für ein humanitäres Bleiberecht plädiert“, sagt er dann. „Have mercy, habt Erbarmen.“

Er sagt auch, „dass wir eine Stimmung haben, in der von Großzügigkeit nichts zu spüren ist. Wir leben mit Menschen zusammen, die kaum eine Perspektive in diesem Land haben“. Das klingt ernüchtert, desillusioniert. Aber er wäre nicht der Mensch, der er ist, wenn er nicht auch jetzt von Hoffnung spräche. „Ich wünsche mir, dass wir weiter beitragen zur der wichtigen Debatte über das Zusammenleben mit Flüchtlingen“, sagt Pastor Wilm. „Denn das muss sich ändern.“