Der Hamburger Trendforscher Prof. Peter Wippermann über das Lebensgefühl zur Jahreswende, Megatrends und die Werte, die 2014 wichtig werden.
In der Netzökonomie zählt vor allem Eines: die eigene Karriere. Sie ist vielen wichtiger als Familie und Gemeinschaft. Die Arbeitswelt ist im Umbruch und der hybride Mensch der Mitarbeiter der Zukunft. Der Hamburger Trendforscher Prof. Peter Wippermann sieht darin eine gesellschaftliche Neuausrichtung, an der nicht alle teilhaben können oder wollen.
Hamburger Abendblatt: Herr Wippermann, wie lässt sich das momentane Lebensgefühl zur Jahreswende beschreiben?
Peter Wippermann:
Zufriedenheit und Stolz, dieses Jahr gut überstanden zu haben.
Das klingt nicht gerade euphorisch.
Wippermann: Die Auswirkungen der Finanzkrisen sind noch spürbar und die Probleme nicht ausgestanden. Viele Menschen sind verunsichert, weil unsere Gesellschaft kaum eine Vorstellung davon hat, wie wir in Zukunft leben wollen. Viele fragen sich eher, wie sie flexibel und dynamisch bleiben, um in zwanzig Jahren noch ihren Lebensstandard halten zu können. Viele erleben den Strukturwandel von der Industrie- zur Netzgesellschaft wie eine Wildwassersituation. Eine langfristige Orientierung ist unmöglich.
Was wird 2014 wichtig?
Wippermann: Wir stehen vor einer Neuordnung der globalisierten Welt. Die USA haben ihre Führerschaft in der Netzwelt gerade wieder durch die NSA-Aktivitäten deutlich gemacht und beanspruchen die uneingeschränkte Datenhoheit. China, Russland aber auch Brasilien ziehen sich zurück. Oder nehmen wir Europa. Unklar ist, welchen Einfluss die Länder künftig bekommen. Das Thema Gerechtigkeit wird zentral. Auch in der Arbeitswelt. Die Industrie 4.0, die Welt der smarten Fabriken und Produkte, existiert zwar lediglich als Blaupause, dennoch haben sich unsere Arbeitsbedingungen durch die Automation und Vernetzung bereits massiv verändert.
Was heißt das für die Bürger?
Wippermann: Im Werte-Index 2014, den ich zusammen mit TNS-Infratest kürzlich vorgestellt habe, liegt Gesundheit vor Freiheit, Erfolg vor Familie. Das sind interessante Entwicklungen. Während der ersten Jahre der Finanzkrise war die Familie als Wert deutlich gestiegen. Man suchte nach Sicherheit in kleinen sozialen Einheiten, Erfolg war nachrangig. Heute ist der persönliche Erfolg wichtiger geworden und Gesundheit gilt als entscheidende Voraussetzung dafür. Das wird auch 2014 unser Werteschema prägen.
Wie wichtig ist die Arbeit für das Lebensgefühl?
Wippermann: Wir Deutschen definieren uns sehr über die Arbeit, andererseits setzt sich gerade bei der jüngeren Generation die Erkenntnis durch, dass Geld allein nicht glücklich macht. Hier versuchen viele jüngere Arbeitnehmer eine Balance zwischen Geld und Glück herzustellen. Das sieht man auch an der Entwicklung von Männern, die eine Elternzeit oder zumindest einen größeren Anteil an Familie und Kindern nehmen.
Wie werden die sogenannten Megatrends wie Globalisierung, Flexibilisierung, Mobilität und Demografie von der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen?
Wippermann: Die Individualisierung der Arbeitswelt nimmt zu, damit steigt die Eigenverantwortung. Wer die neuen flexiblen Arbeitsstrukturen nicht so kennt, für den wirkt diese Veränderung eher negativ und bedrohlich. Wer aber an projekthafte Arbeit und häufig wechselnde Arbeitgeber gewöhnt ist, wird davon profitieren. Sich selbst organisieren, vernetzen und sich vermarkten zu können, wird immer wichtiger. Die Jüngeren sind mit dieser Herausforderung aufgewachsen und sind vielleicht auch gerade deshalb so extrem erfolgsorientiert.
Das ist doch ein Widerspruch zu dem Bedürfnis, einen Ausgleich zwischen Familie und Beruf zu finden.
Wippermann: Erfolg wird heute anders definiert. Er wird nicht so sehr am Geld gemessen, sondern an einer selbstbestimmten und gesunden Lebensweise. Materielle Werte werden ergänzt durch immaterielle Werte. Es findet bereits eine Veränderung in den Unternehmen selbst statt. Diese sehen, dass sie ihren Mitarbeitern persönliche Freiheiten, Freizeit und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bieten müssen, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Unternehmen entwickeln neue Modelle der internen Zusammenarbeit.
Die aber zunehmend unverbindlicher werden?
Wippermann: Projektarbeit heißt ja nicht zwangsläufig schlecht bezahlte und abhängige Leiharbeit, sondern eher Experten-Selbstständigkeit. Arbeit wird zur Ware. Dabei entsteht eine Spaltung zwischen den Digital Natives, die mit den neuen Technologien aufwachsen und den Digital Immigrants, die zwar mitmachen, aber die projekthafte, vernetzte Arbeitswelt ist nicht ihre Heimat.
Also eine Frage des Alters?
Wippermann: Nicht nur. Da die Entwicklung durch Medientechnologien geprägt ist, geht es um Wissen, wie man die Netzökonomie entwickeln kann. Ausgehend von der Technologie verändert sich die Organisation der Arbeitswelt. Diesen Prozess erleben wir bereits seit zwanzig Jahren, und nicht alle können oder wollen diesen Wandel mitvollziehen. Es gibt immer mehr Menschen, die nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, weil sie mit Maschinen konkurrieren. Wer keine gesuchte Qualifizierung für den Wandel mitbringt – das können auch Akademiker aller Altersstufen sein – wird es schwer haben.
Sie sehen eine weitere Spaltung der Gesellschaft?
Wippermann: Auf jeden Fall eine Polarisierung. Wir können das gut an dem Siegeszug des Onlinehandels beobachten. Während die Umsätze hier steigen, verlieren die lokalen Händler an Bedeutung. Die Folge sind leer stehende Ladengeschäfte. Sie prägen die B-Lagen der Kleinstädte. Mit dem E-Commerce boomt die Paketzustellung, neue Arbeitsplätze werden geschaffen, meist in den untersten Lohngruppen. Unter dem Stichwort Same-Day-Delivery werden schon in London und Berlin Privatpersonen angeworben, um Pakete zuzustellen und bekommen nur die einzelne Lieferung bezahlt.
Klingt nicht nach einem gut bezahlten Job.
Wippermann: Bei der Diskussion um die zukünftige Drohnen-Zustellung, die Amazon und DHL begonnen haben, wird die Entwicklung deutlich, dass Menschen mit einfachen Tätigkeiten nicht mit Maschinen konkurrieren können. Es wird eine ökonomische Polarisierung geben. Die schöne neue Arbeitswelt wird nicht für alle gleichermaßen erfreulich werden. Viele arbeiten schon jetzt flexibel und stehen quasi rund um die Uhr zur Verfügung. Die Herausforderung wird sein, sich selbst permanent weiterzubilden, Ziele zu setzen und Grenzen zu ziehen. Diese flexible und dynamische Arbeitswelt hat längst begonnen. Wir bezahlen gesellschaftlich unseren Preis, indem wir weniger Kinder bekommen.
Ist denn ein Ende dieser Entwicklung in Sicht?
Wippermann: Die Reise in die virtuelle Welt wird weitergehen. Nur 15 Prozent der Deutschen sind heute nicht im Netz. Die Netzgesellschaft wird zukünftig vor allem kulturelle Antworten auf die technologischen Veränderungen suchen müssen. Der Erfolg des Netzes beruht darauf, dass wir begonnen haben, unsere sozialen Beziehungen zu Programmen umzugestalten. Wir leben dadurch schneller, bequemer und selbstbestimmter. Man kann diese Entwicklung erkennen an der Zunahme von Twitter-Meldungen bei gleichzeitiger Abnahme der gesendeten Textlängen.
Noch weniger als 140 Zeichen?
Wippermann: 140 Zeichen sind technisch möglich, aber immer weniger Anschläge werden tatsächlich genutzt. Bilder und Videos verdrängen zunehmend Texte. Das mediale Kraulen muss schneller gehen. Jeder von uns übernimmt zunehmend Verwaltungsarbeit für Unternehmen. Wir buchen online Tickets, bestellen Waren oder machen unsere Bankgeschäfte im Netz. Diese Dateneingabe kostet Zeit.
Wozu führt das?
Wippermann: In der digitalen Oberschicht nimmt die digitale Euphorie ab. Ein Gegentrend macht sich bereits bei den Intensivnutzern der Netzwelt breit: Digital Detox. Es gilt, selbstbewusst die Netzverbindung zu kappen und nicht erreichbar zu sein. Digitale Abstinenz gilt als neuer Statuswert. Der Trend aber geht in Richtung Hybrid-Modell. Man möchte beide Welten smart miteinander vereinen.
Gibt es einen Unterschied dieser Entwicklung in Großstädten wie Hamburg und ländlichen Gebieten?
Wippermann: Großstädte wie Hamburg haben eine wachsende lebendige Jugendkultur. Neue digitale Trends entstehen gerade dort. Deshalb zeigen sich gesellschaftliche Entwicklungen in Großstädten schneller und deutlicher.
Ich hatte Sie gefragt, ob Zukunftsforschung heutzutage überhaupt noch möglich ist. Sie sagten, Sie seien Trendforscher, kein Zukunftsforscher. Wo ist der große Unterschied?
Wippermann: Mir geht es um die Analyse des heutigen gesellschaftlichen Wandels und um die Entwicklung möglicher Szenarien für morgen. In der Zukunftsforschung versucht man den Alltag in der Welt von übermorgen zu prognostizieren.
Wie wichtig sind uns heute noch Rituale wie Weihnachten?
Peter Wippermann: Sehr wichtig. Das gehört auch zu den Gegentrends, von denen ich sprach. Alles was verschwindet, gewinnt an Wert. Gehen Sie mal an die Alster. Da sehen sie keine Disney-Weihnachtsinszenierungen mehr. Die bunten, blinkenden Lichter sind verschwunden, es ist alles sehr pur, weiß und grün und traditionell und irgendwie hanseatisch geworden.