Professor Rainer Schnell über uneinheitliche Melderegister, fehlende Qualitätskontrollen und die Zukunft von Volkszählungen

Hamburg. Rainer Schnell ist einer der wenigen deutschen Statistiker, die sich mit Großerhebungen wie dem Zensus beschäftigen. Der 56-Jährige ist Professor an der Universität Duisburg-Essen. Am Institut für Soziologie hat er den Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung inne.

Hamburger Abendblatt:

Was läuft falsch im Zensus-Verfahren?

Rainer Schnell:

Der Zensus basiert auf vorhandenen Registern. Die sind allerdings sehr uneinheitlich. Wir haben mehr als 5000 Einwohnermeldeämter. Die förderale Struktur ist das Kernproblem der amtlichen Statistik. Jedes Bundesland hat sein Landesamt für Statistik, das selbstständig arbeitet. Es gibt zwar das Statistische Bundesamt, das aber keine Befugnisse gegenüber den Landesämtern hat. Das führt dazu, dass die Datenqualität zwischen den Ländern variiert und keine zentralen Qualitätskontrollen möglich sind.

Wie bekommt man die Fehler aus den Melderegistern?

Schnell:

Ideal wäre eine zentrale Statistikbehörde, so wie etwa in Frankreich. Das setzt voraus, das die amtliche Statistik Bundessache würde. Ebenso problematisch ist die Tatsache, dass das Statistische Bundesamt eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums ist. Entsprechend arbeitet es: Verwaltungsakte werden realisiert. Aus der Sicht der Forschung ist diese Organisation absurd.

Warum?

Schnell:

Wenn amtliche Statistik im Rahmen einer Forschungsinstitution betrieben wird wie in den USA, Schweden oder den Niederlanden, kann sie ganz anders arbeiten. Im Moment verhindern vermeintliche Datenschutzprobleme den Zugang selbst zu den Straßenregistern aus dem Zensus oder den Häufigkeiten der Vornamen. Die Situation ist wirklich absurd. In anderen Ländern gibt es aufgrund des anderen Datenzugangs eine öffentliche wissenschaftliche Diskussion um die Methoden und Ergebnisse der amtlichen Statistik, in Deutschland nicht.

Es ist ja auch einer der Kritikpunkte der Kommunen, dass sie die Ergebnisse des Zensus nicht überprüfen können.

Schnell:

Auch aus wissenschaftlicher Sicht reicht die bislang veröffentlichte Dokumentation nicht, um nachzuvollziehen, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Dazu fehlen zu viele Details. Das ist letztlich ein politisches Versagen des Gesetzgebers. Offensichtlich wird das daran, dass das Gesetz keine Kontrollzählungen vorsieht, wie das international üblich ist. Das ist ein Fehler, der auf mangelnde wissenschaftliche Diskussion zurückzuführen ist. Gäbe es eine solche unabhängige Kontrolle, könnten die Kommunen anders argumentieren, als es nun möglich ist.

Wie kann man das Zensus-Verfahren besser machen?

Schnell:

Am einfachsten wäre es aus statistischer Sicht, eine zentrale Personenkennziffer einzuführen, wie es sie in den skandinavischen Ländern gibt. Das würde auf Dauer Milliarden sparen, ist aber politisch in Deutschland nicht umsetzbar. Die vorhandene Steuernummer darf für solche Zwecke nicht verwendet werden. Aus diesem Grund lassen sich in Deutschland etwa kaum Studien zur Verbreitung von Krebs durchführen, die internationalem Standard genügen. Dabei haben wir Dutzende von Krebsregistern, die aber faktisch nicht zusammengeführt werden können.

Also doch wieder jeden einzeln zählen?

Nein. Wir leben in einer mobilen Gesellschaft, die sich nicht mehr an einem Wohnort zählen lässt. Langfristig werden Zensen aus den Daten der Register entstehen, die aber mit aufwendigen Erhebungen überprüft und erweitert werden müssen. Dabei geht es einerseits um Gruppen, die oftmals nicht korrekt von den Meldebehörden verbucht werden, wie Obdachlose, Studenten oder Illegale. Wenn man dann noch Angaben etwa über Familienkonstellationen haben möchte, müssen auch diese durch Befragungen erhoben werden.