Sie wussten nicht, ob ihr Plan aufgeht. Aber sie hatten einen Traum und wollten alles dafür geben: Timo und Nicole Winkel haben den ersten Döner-Imbiss der USA eröffnet. Ein Weg voller Abenteuer und Hindernisse.
Washington. Wer hätte gedacht, dass diese Geschichte ausgerechnet hier beginnt: In einer Sackgasse in Leesburg, eine knappe Autostunde von Amerikas Hauptstadt Washington entfernt. Acht Minuten zum Highway, 20 zum Flughafen. Und mittendrin ein Stück Deutschland, im engeren Sinne sogar: ein Stück Hamburg.
Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, auch nach Stunden nicht. Was für ein Stück Hamburg das ist. Und wer das alles hier aufgebaut hat.
Nicole und Timo Winkel sitzen auf dem Deck vor ihrem Bistro, fünf mal fünf Meter ist das ungefähr groß, es gibt Bierzeltgarnituren und Stehtische und in der Mitte ein seltsames Gebilde aus Stahl mit Fenstern, vielleicht so etwas wie eine zusammengenagelte Besenkammer. Bei genauerem Hinsehen ist die Besenkammer eine Küche. Zwei Fritteusen, ein Klapptoaster, eine Spüle, ein Bratwurstgrill, das alles auf höchstens einem Quadratmeter – und es gibt einen Dönerspieß.
Zwei Hamburger eröffnen den ersten Dönerladen der USA: Das ist die Geschichte, die Timo, 33, und Nicole, 32, an diesem Nachmittag zu erzählen haben, und sie könnte unheimlich lustig sein, allein schon wegen des Wortspiels Hamburger-Döner. Aber wenn man während des Erzählens in ihre Gesichter sieht, dann weiß man, dass das bislang nicht gerade eine Kutschfahrt durch die Heide war. „Aber es war halt unser Traum“, sagt Timo und nimmt einen Schluck Bier aus dem Glas. „Wir wollten immer in die USA, und wir wollten ein eigenes Geschäft aufbauen. Was noch fehlte, war die richtige Idee.“ Der größte Fastfood-Markt der Welt, und niemand verkauft Döner? Das war ihre Chance. Timo und Nicole griffen zu.
Es gibt eine Menge kleiner Anekdoten, die die beiden bis heute erlebt haben, und der ganze Nachmittag ist voll davon. Wie der Konsul, dem sie in Frankfurt ihre Idee präsentierten, von Anfang an begeistert war: „Das ist die Idee des Jahres! Kaum bin ich eine Woche in den USA, vermisse ich Döner!“ Wie Nicole über Wochen in einem Pferdestall schlief, Timo war damals noch in Hamburg. Wie sie dann gemeinsam einen Truck fanden, den sie komplett umbauten. Einen Truck als rollende Dönerbude. So hat alles angefangen.
Jeder sollte ihnen bei der Zubereitung zusehen können
Im DönerBistro in Leesburg gibt es eine ganze Wand voller Fotos aus dieser Zeit, eines ist vom 16. September 2006. Es zeigt Nicole, wie sie aus dem Truck lehnt, die Seitenladen sind hochgeklappt. Hinter ihr die Döner-Spieße, über ihr ein großes Schild: „Hamburg Döner“. Der kleine Laden in Virginia war ja erst der zweite Schritt. Der erste war der mobile Dönergrill, mit dem sie monatelang von Festival zu Festival zogen, fast wie eine Jahrmarktbude, Nicole nickt und sagt: „Davor hatten Leute damit Süßigkeiten auf Jahrmärkten verkauft.“ Ihre Wangen sind rot vom vielen Erzählen. „Für uns war das ideal. Wir wollten ja, dass jeder uns bei der Zubereitung zusehen konnte, so wie in Deutschland, da geht man ja auch in einen Dönerbude und sieht, wie der Koch das alles zubereitet.“ Kaum ein Amerikaner kennt die Fleischspezialität vom rotierenden Spieß, den der türkische Gastarbeiter Kadir Nurman Anfang der 70er-Jahre in Berlin erfunden hatte. Von hier verbreitete sich der Döner über ganz Deutschland, Nurman hatte an alles gedacht, nur nicht daran, seine Erfindung zu patentieren. Nun erobert sie Amerika.
Timo und Nicole kommen nicht aus der Gastronomie. Als sie begannen, mit ihrem Truck über die Dörfer zu fahren, waren sie zwei junge Menschen mit einem Traum – ohne im ersten Moment wirklich zu wissen, wie das alles geht. Beide hatten 2000 in Hamburg Abitur gemacht, Timo schloss noch eine Lehre zum Industriemechaniker ab. Die half ihm beim Umbau des Trucks. Den haben sie komplett selbst eingerichtet, inklusive Dönerwand, Handwaschbecken und Bratwurstgrill – das Gesundheitsamt hatte nichts zu beanstanden. Nur, wo würde man mit dem Verkauf beginnen? Auf dem Parkplatz eines Shoppingcenters fanden Timo und Nicole schließlich einen Platz: Sie parkten den Truck, stellten einen Plastikzaun auf, dazu Campingtische und Stühle und einen kleinen Fernseher für die Mini-Dia-Show, mit der die beiden Deutschen den Amerikanern den Döner erklärten. Auf dem Verkaufstresen lagen Listen aus, Dönerfreunde konnten ihre Mail-Adresse eintragen. Wenn Hamburg Döner am Wochenende zu einem Festival aufbrach, gab es vorher eine Mail.
„Und dann haben Leute tatsächlich Eintritt gezahlt für irgendwelche Fairs, nur um Döner zu essen“, erzählt Nicole und schüttelt den Kopf. „Das war eine coole Zeit.“ 2006 war das Jahr ihres Durchbruchs, und im Nachhinein betrachtet war das alles natürlich ein großes Glück: Die Fußball-WM hatte Deutschland weltweit beliebt gemacht, und nicht nur die Menschen im Land profitierten davon, auch diejenigen, die dieses Bild im Ausland verkörperten. Es gibt in Washington zwei deutsche Läden, man bekommt dort Weißwurst und Sauerkraut, Geleebananen, Weinbrandbohnen und Pistaziencremepulver. Nichts davon hat etwas zu tun mit dem Deutschland der Nullerjahre. Man sieht dort viele ältere Menschen.
Die Süßigkeiten sind aus Deutschland, die Fanta auch
Das moderne Deutschland, das war die WM 2006. Zu der gehörte der Fußball wie Döner, Bier und Bionade. All das gibt es im DönerBistro von Timo und Nicole. Getränke und Süßigkeiten importieren sie aus Deutschland, „die Fanta, die man hier bekommt, schmeckt eben nicht so wie zu Hause“, erklärt Nicole. Nur mit dem norddeutschen Bier ist es schwierig. Auf einem Regal im Gastraum hinter dem Bestelltresen steht eine Reihe Bierflaschen, Astra, Holsten, Flensburger, „alles Sorten, die nicht in die USA exportiert werden“, sagt Timo. „Jedenfalls nicht in den Mengen, wie wir sie hier brauchen.“ Besonders Astra und Holsten hätten sie natürlich gern, ab und zu einen Schluck Heimat trinken, das wär doch was.
An der Bar des DönerBistros gibt es stattdessen Weihenstephaner, Warsteiner und Köstritzer vom Fass. Hinweisschilder in Form von Autokennzeichen weisen den Weg dorthin, Timo hat sie in Hamburg „in einem dieser Läden bei der Zulassungsstelle“ bedrucken lassen. Und noch etwas ist irgendwie sehr deutsch an diesem Laden: Besteck und Becher, Servietten, Müllbeutel, Strohhalme – alles kompostierbar oder zumindest aus recyceltem Material. Das Bier wird in Originalgläsern serviert.
Das Dönerrezept hat Timo von einer türkischen Familie, schon wieder so eine Anekdote, dieses Mal aus der frühen Anfangszeit. Timos Vater hatte erfahren, dass sich die Eltern einer türkischen Kollegin zur Ruhe setzen wollten, sie hatten mehrere Dönerläden in Hamburg. „Die haben ihre Spieße damals noch selbst gemacht“, erzählt Timo, „das ist ja heute kaum noch so, die meisten kaufen sie in Fabriken. Aber bei denen habe ich alles gelernt: Wie man die Spieße schichtet, welche Gewürze man braucht, wie hoch die Temperatur sein muss, all das.“
Neulich, erzählt Nicole, habe es wieder so eine Auswanderershow im deutschen Fernsehen gegeben. Ein Pärchen sei dabei gewesen, das in Florida einen Dönerladen eröffnen wollte. „Einen Tag vor der Eröffnung haben sie bei uns angerufen. Wo wir unsere Dönerspieße herhaben würden. Ähm, die machen wir selbst, haben wir geantwortet. Ich glaube, die hatten zwei Tage offen oder so.“ Timo und Nicole prusten los, aber es klingt nicht gehässig. Eher erleichtert: dass sie sich von Anfang an so viele Gedanken gemacht haben. Ihre Eltern in Hamburg machen das noch heute. Wie Eltern eben so sind. Vor allem, weil ja jetzt auch ein Kind da ist: Vor drei Jahren ist Benno auf die Welt gekommen.
Benno hat die amerikanische und die deutsche Staatsbürgerschaft, seine Eltern sind weiterhin mit einem Visum in den USA. „Es gilt zwar für fünf Jahre, aber es ist natürlich alles andere als eine Sicherheit.“ Als Timo und Nicole Hamburg verließen, um sich ein Leben in den USA aufzubauen, reichte ein Kredit der Haspa, und eigentlich wollen sie nicht so gern, dass man darüber schreibt: Dass das Geld, das sie inzwischen abbezahlt haben, gar nicht für die Hochzeitsreise war, die sie als Grund angegeben hatten. „Aus Liebe zum Döner“ hätte aber auch komisch geklungen im Antragsformular.
„Wenn wir scheitern, sind wir trotzdem noch jung“
Und doch zahlte sich die Liebe zum Döner am Ende aus. Mit dem Truck lief es nach wenigen Monaten so gut, dass sie 2008 Ausschau nach einem kleinen Laden hielten. Ohne die Hilfe von Investoren war dieser Schritt natürlich nicht zu schaffen. Also flogen sie gemeinsam nach Hamburg und luden Freunde und Familie einen Nachmittag lang in den Konferenzraum eines Hotels ein. Dort präsentierten sie ihre Idee und erzählten von den Erfahrungen mit ihrem Truck. Schnell legte sich die Skepsis. Aus Freunden und Familie wurden Anteilseigner und Investoren. „Die haben einfach gemerkt, dass wir für diese Sache brennen“, sagt Nicole. „Wir hatten aber auch einen sehr guten Plan.“ Nur was, wenn der am Ende doch scheitert? „Das haben wir uns natürlich auch gefragt“, sagt Timo, er sieht für einen Moment älter aus, als er ist. „Wir haben uns einfach gesagt: Dann sind wir halt Anfang 30 und gescheitert. Dann sind wir aber auch noch jung genug, um uns etwas Neues aufzubauen.“
Inzwischen ist das mit dem Scheitern schon schwieriger. Wegen Benno und weil inzwischen ihre gesamte Existenz am DönerBistro hängt. Ein Anrecht auf Einreise in die USA haben sie noch immer nicht, dafür bräuchten sie die Green Card. Vor einem Jahr haben Timo und Nicole einen weiteren Laden eröffnet, in Adams Morgan, Washingtons Ausgehviertel für Studenten und Bohemiens. In Kürze soll ein dritter im Bundesstaat Maryland dazukommen. Dann soll aus der Kette ein Franchise-System werden. So ist der Plan. Aber natürlich laufen die Dinge immer wieder alles andere als nach Plan. „Ja klar, es ist eine Achterbahnfahrt“, sagt Timo. „Wir leben hier unseren Traum, aber manchmal kippt der auch in einen Albtraum, zwar nur für eine kurze Zeit – aber trotzdem.“
Vielleicht lieben die Amerikaner sie genau deshalb, die beiden Hamburger und ihre Geschichte. Es ist keine, die sich um Knödel und Rotkohl dreht, um Gemütlichkeit und Lederhosen. Sondern eine, die die Geschichte der türkischen Gastarbeiter weiterschreibt, die nach dem Lebensgefühl junger Deutscher schmeckt. Eine Geschichte, die mehr mit der Gegenwart dieses Landes zu tun hat als mit seiner Vergangenheit. Außer, dass man sehr oft an die WM 2006 denkt. In einer Sackgasse in Leesburg, eine Stunde von der Hauptstadt Washington entfernt. Wirklich, wer hätte das gedacht.