Für den Hamburger Haushalt gibt es ein bisher unbekanntes finanzielles Risiko: Zahlreiche Privatleute und Unternehmen erheben gegen die Stadt erhebliche Schadenersatzforderungen in unterschiedlichen Bereichen.
Hamburg. Es ist ein zusätzliches finanzielles Risiko von erheblichem Ausmaß für den Haushalt, das bislang nicht bekannt war: Der SPD-geführte Senat rechnet mit Schadenersatzforderungen in Höhe von 192 Millionen Euro, die Private und Unternehmen gegen die Stadt geltend machen. Dabei sind nur die Fälle berücksichtigt, deren Durchsetzbarkeit der Senat für „überwiegend wahrscheinlich“ (mindestens 50 Prozent) hält, und bei denen es um Beträge von mehr als 100.000 Euro geht.
Eine Anfrage der FDP-Bürgerschaftsfraktion hat die Dimension des Problems jetzt an den Tag gebracht. „In Wirklichkeit dürfte die Summe noch erheblich höher sein, weil der Senat nur Großfälle auflistet und nur diejenigen, bei denen er mit einem Erfolg der Gegenseite rechnet“, sagt FDP-Fraktionschefin Katja Suding dem Hamburger Abendblatt.
„Wir müssen wissen, wie viel Hundert Millionen Euro Risiko durch Schadenersatzansprüche insgesamt im Hamburger Haushalt stecken“, sagt die FDP-Politikerin.
In seiner Antwort beziffert der Senat 43 Einzelfälle mit einem mindestens sechsstelligen Streitwert. In sechs Fällen geht es um Auseinandersetzungen in Steuersachen, die allein ein Volumen von 141,6 Millionen Euro haben. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um von Unternehmen angestrengte Klagen gegen Steuerbescheide. In Betracht kommen dabei nur Steuerarten, die von Hamburg eingetrieben werden, wie zum Beispiel Körperschafts-, Umsatz- oder Gewerbesteuer.
In 18 Fällen fordern Bauherren und Bauunternehmen Schadenersatz im Umfang von 11,2 Millionen Euro, zum Beispiel im Zusammenhang mit Planfeststellungsverfahren. In weiteren sechs Fällen klagen Bürger gegen Entscheidungen von Beamten im Rahmen der Amtshaftung jenseits der Steuerverwaltung (9,2 Millionen Euro).
Um einen Streitwert von 30 Millionen Euro geht es bei 13 Prozessen aus unterschiedlichen Bereichen der Ämter und Behörden. Dazu zählen zwei arbeitsgerichtliche Verfahren als Folge von Gruppenklagen sowie ein Kostenerstattungsverfahren im Sozialbereich: eine Auseinandersetzung zwischen der Stadt und einem Träger. Zu Details äußert sich der Senat nicht, um die eigene Rechtsposition nicht zu schwächen.
Für die möglichen Schadenersatzforderungen bildet der Senat keine Rücklagen im Haushalt. Das heißt: Es wird kein gesondertes Konto angelegt, auf das Geld in der erforderlichen Höhe eingezahlt wird. „Für die Eventualrisiken möglicher Schadenersatzforderungen bucht der Senat aber Rückstellungen wie jedes Unternehmen nach kaufmännischen Grundsätzen“, sagt Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD). Die Rückstellungen werden als Minus an Liquidität im Haushalt ausgewiesen.
„Wir fordern den Senat auf, solche Risiken in der Haushaltsplanung vollständig zu berücksichtigen und entsprechend Vorsorge zu treffen“, sagt dagegen Suding.
Der Senat ist anders als Privatunternehmen gesetzlich nicht gezwungen, Rücklagen für Schadenersatzforderungen zu bilden. Die Stadt muss lediglich im Rahmen ihrer Geschäftsberichte auf die Forderungen von mindestens 100.000 Euro hinweisen, deren Durchsetzbarkeit sie für wahrscheinlich hält. Tschentscher will es dabei belassen und lehnt die FDP-Forderung nach Bildung von Rücklagen daher ab. „Ob am Ende der geforderte, ein anderer oder gar kein Betrag infolge eines Urteils oder eines Vergleichs zur Auszahlung kommt, kann man nicht vorhersagen“, begründet der Finanzsenator die Linie.
Wozu das führen kann, zeigt der Fall, durch den die Liberalen auf die Problematik aufmerksam geworden waren. Der Senat beantragte von der Bürgerschaft im Oktober die Genehmigung von 1,055 Millionen Euro zur Zahlung eines außergerichtlichen Vergleichs nach einer Schadenersatzklage. Die Praxisklinik Bergedorf wollte 1997 (!) mit 20 Betten in den Krankenhausplan 2000 aufgenommen werden, was die Gesundheitsbehörde ablehnte. Die Bergedorfer Klinik klagte gegen die Stadt wegen entgangener Krankenhausförderung und entgangener Erlöse aus stationären Behandlungen – letztlich auf 4,58 Millionen Euro Schadenersatz. Das Verfahren durchlief alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht und wurde von dort wieder an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Mehrfach hatte die Stadt vergeblich eine gütliche Einigung versucht. Das gelang erst im Mai dieses Jahres. Obwohl der Rechtsstreit 16 Jahre dauerte, hatte der Senat keine finanzielle Vorsorge getroffen. Mehr noch: In der Begründung für seine Haushaltsforderung an die Bürgerschaft spricht der Senat von einem „unvorhergesehenen und unabweisbaren“ Mehrbedarf. Wenn die Bürgerschaft die Mehrausgabe genehmigt, muss an anderer Stelle des Gesundheitsetats eingespart werden.