Auf der Reeperbahn gibt es 27-mal so viele Gästeführer wie vor zehn Jahren. St. Paulianer fühlen sich schon von den Gruppen und dem Lärm der Lautsprecher belästigt. Stadt will die Qualität verbessern.

Dicht an dicht drängen sie sich durch den schmalen Durchgang mit Blick auf die beiden gespreizten Frauenbeine, in deren Mitte sich die Tür befindet. Eine Gruppe nach der anderen postiert sich auf dem kleinen Hinterhof neben dem Eros-Center. Jedes Mal fallen die Worte „Nutella-Bande“, „Ludenkrieg“, „Boxkeller“, allenfalls die Reihenfolge variiert.

Vor der „Ritze“, der einst berüchtigten Zuhälter-Kneipe an der Reeperbahn, treffen sie sich fast täglich. Sie nennen sich „Titten-Tina“, „Inkasso-Henry“ und „Eve Champagne“ – Woche für Woche führen die selbst ernannten Kiez-Experten die Touristen über Hamburgs sündige Meile. Bis zu 70 dieser Gruppen schieben sich an den Wochenenden über die Reeperbahn. Was als Nischenangebot weniger Stadtführer begann, ist mittlerweile ein ganzer Berufszweig geworden. Ein Boom, der bislang kein Ende kennt.

Die Zahl der Reeperbahn-Rundgänge und Kiez-Touren hat sich in den vergangenen zehn Jahren vervielfacht. Waren es im Jahr 2003 noch vier, meist aus Einzelpersonen bestehende Anbieter, so ist die Zahl auf rund 16 Anbieter mit insgesamt mehr als 110 Gästeführern – also auf das 27,5-fache – gestiegen. Genaue Zahlen gibt es nicht, da die größtenteils selbstständigen Führer nirgendwo registriert werden.

„Wir können diese Entwicklung gefühlt bestätigen“, sagt Sascha Albertsen von Hamburg Tourismus. Die Hansestadt werde immer attraktiver, was sich vor allem an den Übernachtungszahlen ablesen lasse. „Der Stadtteil St. Pauli und insbesondere die Reeperbahn sind natürlich vor allem auch durch die Medien sehr bekannt“, sagt Albertsen. „Ein Reeperbahn-Bummel gehört zu jedem Hamburg-Aufenthalt dazu.“

Ob „St. Pauli Quickie“, „Seeräubergang“ oder „Sex, Drugs und Currywurst“ – mittlerweile gibt es für jede Alters- und Zielgruppe eine entsprechende Tour über die Meile. Zwischen 10 und 45 Euro kostet eine solche Führung für zwei Stunden je nach Anbieter. Neben den offenen Touren, die regelmäßig zu festen Terminen stattfinden und zu denen sich jeder anmelden kann, bieten viele auch Sondertouren für geschlossene Gruppen wie Junggesellenabschiede, Vereine oder Schulklassen an.

Mit mehr als zehn Gruppen startet allein das St. Pauli Tourist Office an einem guten Sommerwochenende. „Wir achten jedoch darauf, möglichst kleine Gruppen zu machen, damit die Atmosphäre persönlich bleibt“, sagt Henning Bunte vom St. Pauli Tourist Office. Ihr Markenkern: „Alle Guides leben und arbeiten hier im Viertel und jeder ist auf seine eigene Art mit St. Pauli verwurzelt“, sagt Bunte.

Neben der klassischen Kiez-Tour und einer speziellen Krimi-Tour, bietet das St. Pauli Tourist Office sogar eine kulinarische Tour durch das Viertel an. Unter dem Motto „Satt Pauli“ zeigen die St. Paulianer ihre beliebtesten Restaurants, Cafés und Imbissbuden – mit jeweils einem Snack inklusive.

Denn es sind längst nicht mehr nur Touristen, die die Führungen buchen. „Wir haben auch viele Hamburger und St. Paulianer dabei, die noch etwas über ihren Stadtteil und das Rotlichtgewerbe lernen wollen“, sagt Gerritje Deterding von der Historischen Hurentour. Auch Nachtwächter Erwin, der täglich mit seiner Laterne über die sündige Meile zieht, sammelt ähnliche Erfahrungen. „Von den 17.000 Gästen, die 2012 bei uns eine Tour mitgemacht haben, kamen 9000 aus Hamburg.“ Eine der wohl schrillsten und bekanntesten Persönlichkeiten unter den Fremdenführern ist Travestiekünstler Oliver Knobel, alias Olivia Jones. Seit 2006 veranstaltet die Dragqueen neben Hafenrundfahrten regelmäßige Touristenführungen über die Reeperbahn.

Bis zu 40 Personen begleiten Olivia Jones am Wochenende bei ihrer Kiez-Safari. Mit zunehmender Popularität, beispielsweise durch Auftritte in Fernsehshows wie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“, stieg in den vergangenen Jahren die Zahl der Teilnehmer. Mittlerweile gehören sieben weitere Guides, darunter der selbst ernannte „Kugelblitz“ Sven Florijan und Travestie-Star Lilo Wanders zu dem Team.

Es ist seltsam. Während der Kiez einen enormen Wandel vollzieht, den viele alteingesessene Bewohner gar als Niedergang bezeichnen, scheint das Interesse der Touristen an dem Stadtteil zuzunehmen. Ähnlich wie bei einem Künstler, der zwar längst verstorben, nach seinem Ableben aber weltberühmt geworden ist. Ob Salambo oder Star Club – die Zeiten freizügiger Live-Sex-Shows und legendärer Konzertauftritte sind bis auf wenige Ausnahmen vorbei. Mit dem Abriss der Esso-Häuser und der vor allem aus dem Fernsehen bekannten Tankstelle, stirbt in Kürze wieder ein Stück St. Pauli. Stattdessen entstehen Diskotheken, Bars und Hotels an jeder Ecke. Viele fragen sich: Wird die Reeperbahn zum Disneyland?

„Wir spielen zwar bei unseren Touren mit Klischees, klären dann aber auch über den Wandel auf und brechen mit Vorurteilen“, sagt Olivia Jones, die ihre Touren auch als „Stand-up-Comedy mit Aufklärungscharakter“ und „betreutes Unartigsein“ bezeichnet. „Unsere Gäste nutzen unsere Touren nicht als betreutes Gaffen, sondern als Orientierungshilfe, um zu schauen, wo sie abends noch hingehen können. Ich habe einige Gäste, die sich hier ohne uns nicht in einen Sexshop trauen würden.“

Doch die Menschen auf St. Pauli sehen die Entwicklung zunehmend kritisch – auch einige der Damen, die Abend für Abend rund um den Hans-Albers-Platz auf Freier warten. „Manchmal fühlt man sich wie im Zoo“, sagt eine von ihnen. Natürlich hätten Touristen schon immer zu St. Pauli gehört, aber einige der Frauen fühlten sich teilweise regelrecht vorgeführt. Auch viele Anwohner sind zunehmend genervt. „Es ist schrecklich“, sagt Claudia H. aus der Silbersackstraße. „Vergangenen Donnerstag standen abends drei Gruppen vor meiner Tür. Ich konnte mit meinem Auto nicht mal in die Garage fahren.“ Was sie vor allem ärgert: „Die Gruppen sind teilweise riesig und mit ihren Lautsprechern brüllen sie sich gegenseitig in Grund und Boden.“ Über diese Rücksichtslosigkeit mancher Kollegen ärgert sich auch Gerritje Deterding von der Historischen Hurentour.

Sie plant nun rechtlich gegen Olivia Jones vorzugehen, da deren Touren nicht erlaubte Verstärker benutzen würden, die ihr und ihren Kolleginnen das Reden erschwerten. „Unsere Guides sind gehalten, Rücksicht zu nehmen und an Stellen abseits der ausgetretenen Pfade die Stimmverstärker runterzupegeln“, verteidigt sich Olivia Jones.

An einigen Orten treten sich Besuchergruppen mittlerweile gegenseitig auf die Füße. „Eigentlich hatten wir uns extra ruhige Uhrzeiten am Mittwochabend und Sonntagmittag rausgesucht“, sagt Künstler Aal Fatal, der mit seinem Kollegen Tiegervogel musikalische Rundgänge durch das Viertel anbietet. „Früher war man da noch ganz allein, mittlerweile ist es selbst um diese Zeit richtig voll.“

Während große Anbieter Zuwächse verzeichnen, fällt es den kleinen Veranstaltern zunehmend schwer, sich gegen die werbestarke Konkurrenz zu behaupten. „Es sind zu viele Anbieter“, sagt Christina Linger vom Hamburger Gästeführer Verein. „Heute sind die Touren vor allem bunt, laut und schrill. Die Wissensvermittlung gerät dabei in den Hintergrund.“

Die Kurverwaltung St. Pauli hat mittlerweile reagiert. „Es wird zu voll auf dem Kiez“, sagte Sönke Albertsen. „Daher haben wir uns als Verein entschieden, am Sonnabend den großen Anbietern den Vortritt zu lassen.“ Kurverwaltung und Stattreisen, zwei der ältesten Anbieter von Reeperbahn-Führungen, wollen sich verstärkt auf spezielle Stadtteilrundgänge zu Themen wir Architektur, Musik oder jüdisches Leben konzentrieren.

Auch Dragqueen Olivia Jones sieht den momentanen Boom mit gemischten Gefühlen. „Es freut mich natürlich, dass ich fast einen neuen Berufszweig begründet habe“, sagt sie und lacht. „Aber das hat inzwischen auch eine Kehrseite: Viele Leute glauben, es würde reichen, sich eine eigene Website zu basteln, Tickets anzubieten und den Touristen dann abends von irgendwem irgendwas erzählen zu lassen. Viele machen einen guten Job. Aber leider nicht alle.“ Auch andere Anbieter klagen über „schwarze Schafe“, die ihr Stück vom Kuchen abbekommen wollen.

„Es gibt zu viele solcher Touren mittlerweile“, sagt ein Wirt vom Hamburger Berg. „Vor allem zu viele, die keine Ahnung haben. Wenn du denen den Zettel wegnimmst, wissen die gar nichts mehr.“ Vieles sei nur auswendig gelernt, ohne dass diejenigen je auf St. Pauli gelebt und damit auch ein Gefühl für das Viertel entwickelt hätten.

Für Gästeführer bei Stadtrundfahrten gibt es seit vier Jahren eine sogenannte Tourbegleiterprüfung. Diese Gästeführer werden regelmäßig auf ihre fachliche Eignung geprüft und zertifiziert. „Es gibt Überlegungen, diese Prüfung auch auf die übrigen Stadtrundgänge in Hamburg auszuweiten“, sagt Susanne Brenicke vom Hamburger Tourismusverband. „Das Angebot der Stadtrundgänge ist jedoch ein sehr undurchsichtiges Feld und daher schwer zu erfassen.“ Der stadteigene Hamburg Tourismus begrüßt diesen Vorschlag, um bei den Touren „die inhaltliche Qualität zu gewährleisten“. In Zukunft dürfte es jedoch noch schwieriger werden, die Zahl der Guides zu überblicken.

„Die Entwicklung ist erstaunlich“, sagt Gerritje Deterding. Sie sucht derzeit zwei weitere Gästeführerinnen, die als historische Huren verkleidet den Touristen das Rotlichtmilieu zeigen. Auch Olivia Jones plant für die Zukunft: „Wir müssen unsere Kapazitäten im nächsten Jahr ausbauen.“ Einer, der ebenfalls in das Geschäft einsteigen will, ist Klaus Barkowsky, auf dem Kiez bekannt als „Der schöne Klaus“. Der 60-Jährige, der nach eigener Aussage einst als Zuhälter bis zu 15 Frauen auf dem Kiez beschäftigte, will 2014 zweimal täglich seine Runden über die sündige Meile drehen. Vor der „Ritze“ dürfte es damit noch voller werden.