Am Ende der Woche, in der Hamburg zur Hauptstadt der Altersarmut gekürt wird, muss Sozialarbeiterin Carmen Krüger den alten Menschen sagen, dass ihre Sozialküche schließt. Es fehlen 32.000 Euro.
Heute muss Carmen Krüger es ihnen sagen. Dass es vorbei ist. Dass sie vergebens gekämpft hat. Von nebenan hört sie schon das Gemurmel der alten Menschen. Sie warten auf das Essen. Sie ahnen nichts.
Heute gibt es Schollenfilet mit Bratkartoffeln und Remoulade. Um 11.30 Uhr soll die Essensausgabe im „Pottkieker“ beginnen, die ersten Senioren waren schon vor elf da. Eine Mitarbeiterin steckt den Kopf in das Büro von Carmen Krüger und sagt, dass sie nicht mehr länger warten kann, die alten Menschen haben Hunger. „Lass sie erst mal essen“, sagt Krüger kraftlos.
Carmen Krüger ist sonst voller Energie. Sie wuselt an guten Tagen durch ihre Sozialküche am Alten Teichweg in Dulsberg, schäkert, macht Witze, lacht. Jetzt sitzt sie zusammengesunken auf ihrem wackligen Bürostuhl.
Carmen Krüger, 57, ist Sozialarbeiterin. Eine von vielen, für die das nicht einfach ein Job ist, sondern eine Berufung. Die ihre Freizeit opfern, um etwas zu tun gegen das Elend in Hamburg. Und die dabei zerrieben werden. Denn: Gutes tun, das ist nicht immer ein Gutmenschen-Job, das ist häufig ein hartes Geschäft. Es geht um Geld. Um wenig Geld, das viele begehren.
Krüger war immer stolz auf ihren „Pottkieker“, den es seit 17 Jahren gibt, davon 15 Jahre mit Krüger. Wo es an jedem Werktag Mittagessen für Bedürftige gibt. Menschen, die Hartz IV beziehen, zahlen drei Euro, alle anderen vier Euro. Es kommen fast nur Alte.
Es sind die Gesichter zu den Zahlen, die das Statistische Bundesamt in der vergangenen Woche veröffentlicht hat: Hamburg ist die deutsche Hauptstadt der armen Rentner, 6,2 Prozent der Einwohner über 65 Jahre bekommen die sogenannte Grundsicherung, Hartz IV im Alter. Das sind 21.000 Hamburger, die Dunkelziffer ist hoch.
Der „Pottkieker“ muss zum 1. Dezember schließen. Das ist es, was Carmen Krüger gleich den Menschen nebenan im Gastraum sagen muss. 15 Mitarbeiter gibt es in der Sozialküche. Sechs Stellen werden mit EU-Geld finanziert, die Förderung endet 2014. Die anderen neun Mitarbeiter werden von der Bundesagentur für Arbeit bezahlt, weil sie im „Pottkieker“ wieder in die Arbeitswelt eingegliedert werden sollten. Doch auch hier wird Carmen Krüger eine Stelle verlieren, die Mittel für Ein-Euro-Jobs werden gekürzt.
Ihr fehlen künftig sieben Mitarbeiter. Die Miete und die Kosten für die Lebensmittel sind hoch. 70.000 Euro braucht der Trägerverein „Mook wat“, damit der „Pottkieker“ 2014 weitermachen kann. Krüger war beim Bezirksamt Nord, die Mitarbeiter dort schätzen das Projekt, sie haben im vergangenen Jahr schon einmal großzügig geholfen. Aber für das nächste Jahr konnten sie nichts mehr zusammenkratzen. Auch bei der Arbeitsagentur war nichts zu holen, bei der EU auch nicht.
Carmen Krüger fand einen privaten Spender, er wollte 38.000 Euro spenden. Fehlen noch 32.000 Euro. Hamburg ist die Stadt der Mäzene, der Stiftungen, der Spender. Und Krüger hat es trotzdem nicht geschafft.
Sie muss es jetzt hinter sich bringen. Sie steht auf, geht durch die Großküche. Früher war das hier mal eine Bäckerei. Der Gastraum liegt im Hochparterre, Tische und Stühle sind einfach. Krügers Mitarbeiterinnen haben sich bemüht, es hier trotzdem schön zu machen. Auf dem Fensterbrett liegen Kürbisse und Laternen mit lachenden Gesichtern.
Die alten Menschen an den langen Tafeln blicken Krüger fragend an. Es ist der Höhepunkt des Tages für viele hier, einige Damen haben sich extra schick gemacht und eine Bluse und einen Rock angezogen. Es ist jetzt Viertel vor zwölf.
„Ich muss Ihnen heute was mitteilen“, sagt Carmen Krüger in das Gemurmel hinein. Es wird still. Als Krüger fertig mit ihrer Mitteilung ist, wird es laut im Raum. „Oh nein!“ – „Wo sollen wir denn jetzt hin?“ – „Die SPD ist schuld.“ An diesem Tag wird es nicht mehr still werden im „Pottkieker“.
Norbert Pfuff schimpft besonders laut. „Was soll ich jetzt machen?“, ruft der 72-Jährige. Pfuff isst jeden Tag hier, gerade hat ihm eine Mitarbeiterin den Teller mit einer Scholle gebracht. An seinen Stammplatz, links neben der Essensausgabe. 925 Euro Rente bekommt Pfuff im Monat, die Hälfte geht für die Wohnung weg. Vom Rest kann er seinen Alltag so gerade noch aus eigener Kraft finanzieren, sagt er. Aber jetzt? „Ich kann nicht kochen. Ich werde mir Fertiggerichte holen. Erbsensuppe zum Beispiel.“ Er verzieht das Gesicht.
Gleich, um zwölf, kommt ein Kumpel. Werden sie sich künftig noch sehen? Immerhin der Mittwoch wird eine Abwechslung bleiben: Dann isst Pfuff immer bei seinem Bruder.
Ein paar Tische weiter trauert Christel Fechner. „Hier bin ich in Gesellschaft. Hier bin ich nicht allein. Sonst vereinsame ich“, sagt sie. Sie ist 71, hat drei erwachsene Kinder. Die will sie in Ruhe lassen. „Die sollen ihr eigenes Leben leben.“ Solange sie im „Pottkieker“ ihre Freunde treffen konnte, war ja auch alles in Ordnung.
Christel Fechner hat jahrelang nicht in die Rente eingezahlt, weil sie zu Hause ihre Kinder großzog. Ihre Ehe wurde geschieden, sie lebt jetzt allein. Aber sie wolle nicht jammern, sagt sie. Jetzt wohnt sie in einem Seniorenstift, in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung. Sie hat 800 Euro Rente, mehr als die Hälfte zahlt sie für die Senioren-Wohnung. Das Geld reicht nicht aus: Sie ist eine Hartz-IV-Rentnerin. Und damit ein klassischer Fall zu den Zahlen, die in der vergangenen Woche veröffentlicht wurden. Denn Altersarmut ist weiblich.
Christel Fechner geht seltener zum Friseur. Wenn ihre Schuhe neue Sohlen brauchen, zögert sie den Gang zum Schuster lange hinaus. Das alles ist eben so, sagt sie. Wichtiger ist es ihr, nicht allein zu sein. Wenn sie mit ihren Freunden nach dem Mittagessen noch zum Klönschnack sitzen bleibt, bringen ihnen die Mitarbeiter einen Kaffee. Dann können sie über früher reden, „was wir damals so alles ausgefressen haben“. Und gerade damit soll jetzt Schluss sein? Der „Pottkieker“ ist alles, was sie hat, sagt sie. Christel Fechner hat in der Sozialbehörde gearbeitet, als Sachbearbeiterin. Sie will dem Herrn Senator jetzt einen Brief schreiben und ihn auffordern, den „Pottkieker“ zu retten. Hoffnung hat sie nicht.
Der Älteste hier im Raum ist Christian Böttcher. Er ist 95 Jahre alt. Gerade hat er sein Essen beendet, die Scholle hat gut geschmeckt. Jetzt sitzt er noch so da und schaut sich die Leute an. Sein Rollator steht an der Seite. Böttcher wohnt um die Ecke, in einer kleinen Wohnung. Auch er bekommt Grundsicherung. Dabei war er einmal ein wohlhabender Mann. In Stuttgart führte er ein Unternehmen, das Ladeneinrichtungen herstellte. Er hatte 70 Mitarbeiter – aber dann verlor er alles. Seine Firma ging pleite. Das war Mitte der 80er-Jahre. Seine Frau ist tot, seine fünf Kinder und elf Enkelkinder leben in Baden-Württemberg. Böttcher ist in seine Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt.
Der Pflegedienst hilft ihm im Haushalt und mit den Medikamenten, bei der Körperpflege. Er hat es in den Beinen, manchmal ist ihm schwindelig.
Er war froh, als er vor vier Jahren den „Pottkieker“ entdeckte. Die Mitarbeiter bringen ihm das Essen an den Platz. Wenn er mal nicht da ist, rufen sie an und erkundigen sich, wie es ihm geht. Wenn er Hunger hat, bringen sie ihm das Essen nach Hause. Er soll nicht zu den Menschen gehören, die auf einmal nicht mehr da sind – und keiner merkt es. Und jetzt? Böttcher jammert nicht, er lächelt. Dann erzählt er von seinem Glauben. Damals, als er im Krieg in Italien in Kriegsgefangenschaft geriet, hat Gott ihm Kraft gegeben. Auch nach der Pleite, auch jetzt im Alter. Böttcher zeigt nach oben und sagt: „Er wird mir helfen.“
Carmen Krüger sagt, dass viele, die hierher kommen, arm seien – aber nicht zum Sozialamt gingen. Aus Stolz. Weil sie Jahrzehnte gearbeitet und in die Rente eingezahlt haben. Sie wollen es selbst schaffen, ohne den Staat. Doch die Mieten und die Kosten für Lebensmittel steigen. Es muss keine Krankheit das Geld der Rentner aufzehren, es muss keine Insolvenz geben, um arm zu sein. „Man muss nur in Hamburg wohnen. Das reicht“, sagt Krüger.
Und doch ist Armut nicht nur eine Sache des Geldes. In vielen Fällen ist die Armut an Sozialkontakten schlimmer. Wenn es keine Kinder gibt, keine Verwandten, wenn die Kinder weit weg leben. Wenn Freunde sterben. Krüger erzählt von einem alten Mann. Seine Frau war in der Nacht gestorben. Er stand morgens um sieben vorm „Pottkieker“, weil er nicht wusste, wo er hin sollte.
Und dann sind da noch die Mitarbeiter. Für sie war der „Pottkieker“ eine zweite Chance auf dem Arbeitsmarkt, nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit. Silvia Kudwien, die Küchenhilfe, kam vor fünf Jahren hierher. Der Job gab ihr Würde zurück: Sie kann etwas. Und sie ist wertvoll – auch für die alten Menschen. Kudwien erzählt von den Sommerfesten, von der Weihnachtsfeier, von den Kollegen, die zu Freunden wurden. „Vielleicht erbarmt sich ja doch noch einer und rettet den ,Pottkieker‘“, sagt sie. Zum 1. Januar wird sie arbeitslos sein. Dann wird sie wieder da sein, wo sie vor fünf Jahren war.
Am Ende dieses Tages haben 117 Menschen im „Pottkieker“ gegessen. Und Carmen Krüger fragt sich, wie sie die Großküche verschrottet und die Tische und Stühle aus der Gaststube loswird. Sie sagt: „Die Politik hat die alten Menschen aufgegeben.“ Eigentlich ist sie eine Expertin für das Thema Altersarmut in Hamburg, ihr Wissen ist wertvoll in einer alternden Gesellschaft.
Ihr Wissen wird sie nicht weiter einbringen. „Ich bin müde“, sagt Krüger. Müde vom Kämpfen. Sie kann nicht mehr. Deshalb wird sie den Job wechseln, sich um psychisch kranke Menschen kümmern. Eine andere Zielgruppe. Sie sagt, dass sie darüber froh sei.