In einer Erklärung kritisieren Hamburger Juristen die NSA-Abhörprogramme und machen der Bundesregierung schwere Vorwürfe
Hamburg. Als Manuel Cadmus früher mit dem Fahrrad in seine Kanzlei gefahren ist, kam er immer am amerikanischen Konsulat vorbei, der großen schneeweißen Villa am Ufer der Außenalster. Manchmal sah er dann die US-Flagge auf dem Dach wehen. Er habe auch an den Wert der Freiheit gedacht, für den die amerikanische Fahne einmal für ihn persönlich gestanden habe, sagt der Hamburger Rechtsanwalt.
Heute sehe er die rot-weißen Streifen auf der Fahne und denke an die Gitterstäbe in einem Gefängnis. Amerika, ein Gefängnis. Seine Bürger eingesperrt in Unfreiheit durch die Überwachung der amerikanischen Geheimdienste wie der National Security Agency (NSA). Und das gelte auch für die Menschen in Deutschland. So sieht er das.
Und so in etwa sehen das auch seine Anwaltskollegen wie Oliver Pragal und Sabine Marx. Gemeinsam mit Cadmus und neun weiteren Anwälten wollen sie nun ein Zeichen gegen die „digitale Totalüberwachung“ setzen. „Rechtsanwälte gegen Totalüberwachung“, so nennen sie ihre Initiative. In ihrer „Hamburger Erklärung“ bezeichnen sie die NSA-Abhörpraktiken als einen „beispiellosen Angriff auf das verfassungsmäßige Grundrecht auf Privatsphäre“. Das durch den früheren NSA-Mitarbeiter Edward Snowden bekannt gewordene Sammeln und Auswerten von Daten aus Telefonaten, aus E-Mails, sozialen Netzwerken oder von Webseiten wie Google ermögliche zudem Wirtschaftsspionage in großem Stil, heißt es in der Erklärung. Für ihre scharfe Kritik haben die zwölf Hamburger Anwälte eine eigene Seite im Internet eingerichtet. Seit Donnerstagabend ist sie online. Bis zum Freitagnachmittag hatten 52 Anwälte aus ganz Deutschland die Erklärung unterzeichnet. Auch die Politiker und Rechtsanwälte Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) und Konstantin von Notz (Grüne) gehören zur Initiative.
Etwa 100 Tage ist es her, da machte Snowden sein Wissen über die Arbeit der NSA öffentlich. Durch seine Enthüllungen wissen US-Bürger nun, dass ihr Geheimdienst Metadaten nahezu aller Telefongespräche sammelt – die Behörde weiß, wer wie lange und mit wem gesprochen hat. Seit 100 Tagen haben Internetnutzer weltweit mehr Gewissheit darüber, dass Geheimdienste ihre Bewegungen im Netz ausspähen. Firmen wie Google oder Facebook müssen Zugriffsrechte auf private E-Mails einräumen. Auch das wurde bekannt. Sitzungsräume von Politikern der EU sind offenbar abgehört worden.
Im US-Senat werden derzeit schärfere Regeln für den Geheimdienst NSA vorbereitet, zugleich sollen dessen Befugnisse aber auch ausgeweitet werden. Die Sammlung von Inhalten von Telefongesprächen werde künftig verboten, sagte die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses, Dianne Feinstein, in Washington. Zugleich unterstützte sie die Ausspähung von Terrorverdächtigen, die in die USA kommen. Bislang müsse die NSA ihre Überwachung stoppen, sobald die Verdächtigen den Boden der USA beträten, sagte die Senatorin. Und dies, obwohl diese Menschen Anlass „zu größter Sorge“ geben könnten. Daher sei eine Änderung der Regeln notwendig.
Erst am Freitag war zudem bekannt geworden, dass es in mehreren Fällen auch Missbrauch von Abhörmaßnahmen durch Geheimdienstmitarbeiter zu privaten Zwecken gegeben hat. So ließ ein Mitarbeiter von 1998 bis 2003 ohne dienstlichen Anlass neun Telefonnummern von ausländischen Frauen überwachen und hörte aufgezeichnete Gespräche ab. Das flog erst auf, als seine Geliebte, die ebenfalls für die US-Regierung arbeitete, Verdacht schöpfte. Der Mann wurde suspendiert und kündigte, bevor über eine Bestrafung entschieden wurde.
Doch ein Aufschrei der Bürger blieb weitestgehend aus – in den USA. Und in Deutschland. Der Bundestagswahlkampf hat die Debatte um die Datensicherheit in Deutschland überlagert. „Wir wollen mit unserer Petition eine Debatte anstoßen. Wir möchten, dass die Menschen darüber reden, wie und warum das Recht auf Privates nicht weiter verletzt werden darf“, sagt Pragal. Wie er sehen sich auch seine Kollegen Cadmus und Marx als Anwälte der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung besonders verpflichtet.
Bisher gaben auch der deutsche Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst (BND) nur zu Protokoll, dass sie von Abhörprogrammen des US-Geheimdienstes keine Kenntnis hatten. Einige Mitarbeiter aber gaben zu, dass die Informationen der US-Kollegen Massendatensammlungen nahegelegt hätten.
Die Hamburger Anwälte erheben nun auch Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Sie vertusche die Verstrickungen der deutschen Sicherheitsbehörden mit dem amerikanischen und dem britischen Geheimdienst, sagt Pragal. Die Regierung fördere die Totalüberwachung durch die Genehmigung von NSA-Standorten in Deutschland. Zugleich fordern die Anwälte die Bundesregierung auf, die Verhandlungen mit den USA über ein Freihandelsabkommen auszusetzen sowie die Verträge zum Austausch von Fluggastdaten zu kündigen, bis die Überwachung durch die USA eingestellt werde.