Der Hamburger Politologe und Sozialforscher Wolfgang Kraushaar erklärt im Interview, warum er glaubt, dass der „Arabische Frühling“ in Ägypten trotz der Unruhen noch nicht verloren ist.

Hamburg. Trotz der Unruhen in Ägypten ist für den Hamburger Politologen Wolfgang Kraushaar der „Arabische Frühling“ noch nicht gänzlich verloren. Der Spezialist für Protestforschung am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) erklärt im Interview, warum er weiter Hoffnung hat, dass der Demokratisierungsprozess in dem nordafrikanischen Land weitergehen wird – sofern das Militär zunächst die Zügel in der Hand behält.. Kraushaar wird an diesem Montag 65 Jahre alt.

Markus Klemm: Wird Ihnen nicht angst und bange, wenn Sie die derzeitigen Zustände in Ägypten sehen?

Kraushaar: Ja, gewiss. Wenn man vergleicht, was am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid begonnen hat und dann für Tausende junge Leute auf dem Tahrir-Platz in Kairo Vorbild war, dann kann man heute schon den Eindruck bekommen, dass der „Arabische Frühling“ auf eine vertrackte Weise kontraproduktiv gewesen sein könnte.

Aber?

Kraushaar: Möglicherweise waren wir und der Westen insgesamt auch nur naiv. Die Machtblöcke sind 2013 immer noch die gleichen wie 2011. Der Militärrat war und ist die entscheidende Kraft. Ohne ihn wäre es weder zum Sturz von Husni Mubarak noch zur Absetzung von Präsident Mohammed Mursi gekommen.

Anders als bei Mubarak haben sich die Ägypter aber für Mursi in einer freien Wahl entschieden.

Kraushaar: Trotzdem bin ich der Auffassung, dass die jetzige militärische Intervention der Generäle ein Stück weit gerechtfertigt war. Schließlich hat Mursi versucht, eine Verfassung durchzusetzen, die faktisch die Einführung der Scharia bedeutet hätte. Der Muslimbruderschaft geht es zweifelsohne um eine islamische Revolution.

Aber wie soll es jetzt weitergehen? Die Anhänger Mursis werden sicher nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Kraushaar: Zunächst muss ein Bürgerkrieg verhindert werden. Außerdem darf die Muslimbruderschaft nicht in den Untergrund gedrängt werden. Sonst wird es auf Dauer zu einer tendenziellen Unregierbarkeit wie im Irak kommen. Ich glaube, die einzige Möglichkeit besteht jetzt darin, dass das Militär die Macht in den Händen behält und klug genug ist, den bereits begonnenen Prozess weiterlaufen zu lassen.

Also wieder zurück in Mubaraks Zeiten?

Kraushaar: Nein, keineswegs. Auch wenn es paradox erscheint, muss das nicht bedeuten, dass jetzt das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Die Lage wird sich wieder entspannen. Außerdem glaube ich, dass eine ganze Reihe von Akteuren davon ausgeht, dass der Demokratisierungsprozess wieder in Gang kommen kann. Ich habe die Hoffnung jedenfalls nicht gänzlich aufgegeben.

Der „Arabische Frühling“ nahm in Tunesien seinen Anfang. Aber auch dort sind die Probleme groß. Sprechen wir in Tunis demnächst vom „Arabischen Herbst“?

Kraushaar: Die Problemlage ist ähnlich wie in Ägypten. Auch dort können diejenigen, die Staatspräsident Ben Ali zum Rückzug gezwungen haben, nicht die Früchte ihrer Protestbewegung ernten. Auch sie mussten erleben, dass eine pro-islamische Partei die Wahl gewinnt und die Regierung stellt. Das ist ähnlich ernüchternd.

Sie haben 2004/2005 in Peking als Gastprofessor gearbeitet. Was glauben Sie, wird es auch einen „chinesischen Frühling“ geben?

Kraushaar: Anfang 2011 gab es Tendenzen, den „Arabischen Frühling“ zu kopieren. Doch das wurde vom Regime im Keim erstickt. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass die sozioökonomischen Widersprüche in China so gravierend sind, dass es früher oder später zu ähnlichen Prozessen wird kommen müssen. Ein Indiz dafür sind die zahlreichen sozialen Unruheherde, von denen der Westen jedoch so gut wie nie etwas erfährt. Gefährlich für das Regime dürfte auch die Situation der 150 Millionen Wanderarbeiter sein, die bislang nur noch keine politischen Fürsprecher haben.

Kommen wir nach Deutschland. Wie beurteilen Sie den – wie manche sagen – gar nicht vorhandenen Bundestagswahlkampf?

Kraushaar: Einen so entpolitisierten Wahlkampf habe ich noch nie erlebt. Das ist ein Trauerspiel. Es gibt keinen wirklichen Motor in der eigentlichen Wahlkampf-Auseinandersetzung. Peer Steinbrück lässt zwar Positionen öffentlich erkennen, aber auch ihm fehlt es an Glaubwürdigkeit und dem nötigen Drive. Wir haben es bei der anstehenden Bundestagswahl mit einem Ereignis zu tun, das sich auf der Ebene der Machtarithmetik bewegt, aber wenig zu tun hat mit den drängendsten Problemen der Gesellschaft: der nach wie vor unkontrollierten Macht der Finanzmärkte, der unbewältigten Krise der Europäischen Union und der Energiewende. Insofern haben die Parteien in diesem Lande die Themen zu einem nicht unerheblichen Teil verfehlt.

Sie werden am 2. September 65 Jahre alt. Üblicherweise geht man dann in Rente. Wie werden Sie es halten?

Kraushaar: Mit Jan Philipp Reemtsma, Stifter und Vorstand des Instituts, ist vereinbart, dass ich weitere fünf Jahre arbeite. Das hängt auch damit zusammen, dass eine Reihe langjähriger Projekte zu Ende gebracht werden will. Es geht zum einen um eine umfangreiche Chronik der RAF und des internationalen Terrorismus und zum anderen um ein in vieler Hinsicht erhellendes biografisches Handbuch zur 68er-Bewegung.