Grillen im Park, Eisschlecken in der Sonne, Kinderfest mit Hüpfburg. Das ist der Sommer in Hamburg. War da noch was? Ach ja! In sechs Wochen sind Bundestagswahlen. Unterwegs im Wahlkampf mit Christian Carstensen, SPD, und Dirk Marx von der CDU.
Christian Carstensen greift in die Kälte. Er holt fünf Stangen Wassereis aus der Truhe. Den passenden Spruch hat er auch vorbereitet: „Rotes Eis von den Roten“, sagt Carstensen.
Dann gehen sie los, der Spitzenkandidat der SPD aus Hamburg-Nord und eine Gruppe Wahlkampfhelfer von den Jusos, über den Sandweg entlang der großen grünen Wiese im Hamburger Stadtpark. Entspannte Trägheit liegt in der Luft. Die Abendsonne wärmt den Rasen, einige Männer kicken, eine Familie grillt, ein paar Teenager chillen. Sie sind gerade weit weg von den Debatten über Mindestlohn, Betreuungsgeld und Euro-Krise. Aber muss ja auch nicht. Christian Carstensen hat ihnen Eis mitgebracht. Und ein paar Sprüche. Denn sie sollen ihn ja wählen. Ihn, den SPD-Kandidaten im Wahlkreis 21.
Auch die CDU macht Wahlkampf in diesen Sommertagen. Sie wähnt sich sechsmal „bestens aufgestellt“. Da sind: Marcus Weinberg, Hamburgs CDU-Chef und Bundestagsabgeordneter. Rüdiger Kruse, Bundestagsabgeordneter. Dirk Fischer, Bundestagsabgeordneter. Frank Schira, Erster Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft. Herlind Gundelach, Senatorin a. D.
Und: Dirk Marx, Fischbrötchen-Unternehmer aus Hamburg-Mitte.
Dirk Marx steht unter einem üppigen Baum im Hammer Park. Marx, 47 Jahre alt, gemütliche Statur, rosiges Gesicht, ist geflüchtet. Denn: Es regnet. Ausgerechnet heute. Dirk Marx hat zum Familienfest geladen. Um sechs Uhr morgens ist er aufgestanden, um halb neun war er hier, hat alles mit aufgebaut. Die Würstchenbude, Bierbänke, die Hüpfburg und die Kletterwand. Außerdem gibt es noch einen Crêpes-Stand und einen Spielautomaten. Und den CDU-Stand. Jetzt fällt dichter Regen auf die Flyer mit der Aufschrift „Dirk Marx – für Sie in den Bundestag“. Keine Wähler in Sicht. Nur Freunde von Marx. Einer von ihnen lässt die Luft aus der Hüpfburg, ein anderer bringt die CDU-Kugelschreiber in Sicherheit.
In sechs Wochen ist Bundestagswahl. Doch das scheint niemanden zu interessieren. Die Bürger genießen den Sommer. Die Politiker müssen sich etwas einfallen lassen für ihren Bundestagswahlkampf. Und so gehen sie dahin, wo das Volk ist: ins Sommerland.
„Hallo, möchten Sie einen Nachtisch?“, fragt Christian Carstensen. Er steht vor ein paar Frauen in den Vierzigern, diese sprechen Spanisch, auf dem Grill brutzeln Hähnchenkeulen und Kartoffeln. „Muchachos!“, ruft eine von ihnen eine Gruppe Männer herbei, die zu ihnen gehört. Carstensen verteilt das Eis. Dazu einen Flyer der Sozialdemokraten und einen Kugelschreiber. „Dann noch viel Spaß. Und guten Appetit“, sagt er. Keine politischen Gespräche, keine Fragen, keine Anwerbungsversuche. Ob die Beschenkten überhaupt wissen, was der Mann da von ihnen will, ist unklar. „Danke, tschüss.“ Jeder Kontakt ist wichtig für einen Politiker, der in den Bundestag will.
Carstensen ist in der SPD, seit er 15 ist. Jetzt ist er 40 und will zurück nach Berlin. 2005 schaffte er schon einmal den Einzug als Abgeordneter – überraschend gewann er damals gegen den CDU-Mann Dirk Fischer. Kaum jemand kannte Carstensen. Vier Jahre später, 2009, flog er wieder aus dem Bundestag. Zwischen ihm und Fischer steht es eins zu eins.
Ein Mann mit blauem Hemd, kurzen Haaren und biergepflegtem Bauch läuft vorbei. „Wollen Sie ein Eis?“, fragt Carstensen. „Neeee!“, sagt der Mann. „Außer ihr versprecht mir, dass ihr nicht mit dem Trittin zusammengeht.“ Jürgen Trittin, der Spitzenkandidat der Grünen und Wunschpartner der SPD in einer Koalition. „Na, schade, dann kann ich Ihnen leider kein Eis geben“, antwortet Carstensen.
Warum tut sich Dirk Marx den Wahlkampf überhaupt an? Den Wahlkreis wird er kaum gewinnen – sein Gegenkandidat ist Johannes Kahrs von der SPD, und der sitzt seit 1998 im Bundestag. Der Wahlkreis 18 gilt als einer der sichersten für die SPD. So richtig viel Unterstützung bekommt Marx auch von seiner Partei nicht. Und jetzt der Regen im Hammer Park, der sein Familienfest vermasselt. Warum also? „Ich mache das, weil es mir Spaß macht“, sagt Dirk Marx.
Während Marx im Regen auf die Wähler wartet, erklärt er, dass er in Berlin die Interessen der kleinen Unternehmer einbringen möchte. Weil er selbst einer ist. Marx hat mehrere Fischbrötchen-Wagen, sonntags verkauft er auf dem Fischmarkt. Er arbeitet auch auf Weihnachtsmärkten, hat das Alstervergnügen organisiert, ist als Lobbyist der Schausteller aktiv. Marx ist genervt von der Bürokratie da in Berlin, von der „Regulierung von oben nach unten“. Er redet über unternehmerische Verantwortung, Arbeitsethos. Und schließlich über sich. Ja, irgendwann sei er von seinen Parteifreunden gefragt worden, ob er den Kandidaten machen wolle. Gegenkandidaten gab es nicht.
Vielleicht stimmt es, was er sagt, dass ihm der Wahlkampf wirklich Spaß macht, vielleicht ist es schön, sein Gesicht auf den Plakaten in der Stadt zu sehen. Aber das alles kostet: Geld, Zeit, Nerven.
Es gibt die einfachen Momente für Abgeordnete und die, die es werden wollen. Die Augenblicke ohne Risiko, wenn sie auf einem Podium sitzen und durch das Mikrofon gegen den Gegner von der anderen Partei wettern. Und es gibt das Risiko, wenn sie rausgehen aus dem Büro, Unbekannte ansprechen, höflich in ihrer Sommerfreizeit stören. Dann treffen sie die Politikverdrossenen dieser Republik, die Nörgler, die frechen Teenager oder besserwissenden Rentner.
Christian Carstensen hat sein Wahlkampfmobil mit in den Stadtpark genommen. Ein Parteifreund hat eine alte Kühltruhe mit dicken Bändern vorne auf den Gepäckträger eines Fahrrads gebunden. Mit Kreppband hat er Plakate mit dem Gesicht von Carstensen an die Seiten der Truhe geklebt. „Ihr Bundestagskandidat für Hamburg-Nord/Alstertal“, steht dort.
Der Kandidat und seine jungen Helfer verstauten darin mehr als 100 Packungen Wassereis, außerdem Flyer mit den Eckdaten zu Kandidat und Programm und eine Einladung zum Beachvolleyball-Turnier der SPD. Wenn Carstensen seine Geschenke überreicht, sagt er: „Vielleicht denken Sie ja im September an mich.“ Die Antworten fallen dann so aus: „Klaaar.“ Oder: „Ja. Ich denke mal drüber nach.“ Dann muss man aber auch schon weiter: die Eltern mit Kinderwagen, der Geschäftsmann mit Schlips, der Jogger.
Im Hammer Park scheint plötzlich wieder die Sonne. Im Nu ist die Hüpfburg wieder aufgepumpt – und voll mit Kindern. Dirk Marx macht sich auf in den Wahlkampf. Die Kinder hüpfen – solange kann man ja mit den Eltern reden.
Mariusz Raczynski ist mit seinem Sohn Luis da. Während Luis hüpft, sagt sein Vater zum Kandidaten Marx, dass er es nicht verstehen könne, dass die Griechen immer noch Geld von Deutschland bekommen – und dafür deutsche Politiker verhöhnen. Marx antwortet mit einer Gegenfrage: Ob sich Raczynski an die Wiedervereinigung erinnere? Nein, da war er noch zu jung. Egal, damals sei Helmut Kohl auf einen Eierwerfer aus Ostdeutschland losgegangen. Das sei auch nicht gut gewesen. „Aber geschadet hat es sicher nicht“, findet der Wähler. Dann fragt er nach: Was Marx denn von einer Koalition mit den Grünen halte? Und von der AfD? Von beidem nichts, antwortet Marx. Nachdem er Luis noch zwei Bonbons geschenkt hat, sagt Luis‘ Vater, dass er sich vorstellen könne, Marx zu wählen.
Zwei ältere Damen mit drei Hunden nähern sich. „Sie sind ja der vom Plakat!“, ruft die eine, „Sie haben ja Ähnlichkeit mit Franz Josef Strauß“ die andere. Die CDU-Kugelschreiber und die netten Flyer mit dem Strauß-Double drauf nehmen sie gerne mit und setzen sich auf eine der Bierbänke. Dieser Herr da von der CDU, der aussieht wie FJS, könne sich ruhig mal dafür einsetzen, dass Hunde wieder frei im Hammer Park herumlaufen dürfen, sagt eine der Damen. Letztens musste sie 85 Euro Strafe zahlen.
Das Fahrrad mit der Kühltruhe hoppelt über die Wiese im Stadtpark. Christian Carstensen nähert sich einer Gruppe Männer. Sie grillen, spielen Volleyball und trinken Bier. „Wollt ihr ein Eis zur Abkühlung?“
„Habt ihr auch Bier? Nee? Dann wird das nichts mit uns.“ Es fängt nicht gut an, aber aufgeben will Carstensen auch nicht gleich. Er bleibt am Grill stehen. Ein junger Mann mit Sonnenbrille, Käppi und Bier in der Hand schiebt sich vor ihn. „Wir sind hier alle CDU“, lallt er. Sein Vater wähle CDU, also mache er das auch. Das Wahlprogramm kenne er nicht, weder von der SPD noch von der CDU. Aber ein Eis könnten sie dann doch da lassen. Carstensen und die anderen drehen ab. „Wenn einer miese Stimmung macht, reißt er die anderen mit“, sagt er ein paar Meter weiter. „Dann kriegst du die nicht mehr in ein vernünftiges Gespräch.“
Vor der Hüpfburg in Hamm droht die Stimmung zu kippen. Ein junger Vater hat seine beiden Kinder an die Hüpfburg verloren. Schon schwirren Marx‘ Mitarbeiter um ihn herum. Der Vater sagt, dass er ohnehin nicht mehr wählen gehe. „Es ist doch egal, wer an der Macht ist. Es passiert nichts. Die haben alle keine Eier in der Hose“, sagt er. „Wir haben einen guten Kandidaten, lernen Sie ihn doch mal kennen“, versucht ein Mitarbeiter zu vermitteln. „Der“, sagt der junge Mann und zeigt auf Marx, „mag ja ein netter Kerl sein. Aber Politiker sind alles Schnacker.“ Ein anderer Mann mischt sich ein und sagt über Marx: „Mir ist der Typ unsympathisch.“ Die CDU zieht sich zurück.
Marx will an die jungen Wähler ran – er hat es auf eine junge Mutter abgesehen, die vor der Hüpfburg wartet. „Kann ich Ihnen ein paar Informationen geben?“, fragt er. Hat sie schon. „Haben Sie denn Fragen? Ich bin nämlich der Kandidat.“ Nein.
Auch von seiner CDU könnte mehr Unterstützung für Marx kommen. Gerade mal 5000 Euro hat er für seinen Wahlkampf zur Verfügung. Sein Kontrahent Kahrs hat im Wahlkreis 1500 Wahlplakate, berichtet Marx. Er selbst hat 200. Rüdiger Kruse und Frank Schira bekommen Wahlkampf-Beistand von Ursula von der Leyen. Herlind Gundelach hat eine Veranstaltung mit Peter Altmaier. Und Dirk Marx? Wenn er Glück hat, kommt vielleicht Philipp Mißfelder. Das ist der Vorsitzende der Jungen Union.
Christian Carstensen ist im Wahlkampf zumindest mit dem SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück unterwegs. Er ist schon fast auf dem Weg heraus aus dem Stadtpark, als es dann doch noch um Politik geht. Eine Gruppe Jugendlicher schleckt noch am SPD-Eis. „Herr Carstensen, Herr Carstensen!“ Sie kichern. Drei Jungen, zwei Mädchen mit Limo auf der Decke. Die Gelegenheit für Carstensen, seine Jugend-Kompatiblität zu testen – und umgekehrt.
„Wie stehen Sie zu Gras, Herr Carstensen?“ Früher habe er ja selbst Flugblätter mit „Legalize it!“ verteilt, antwortet Carstensen. „Aber das Thema Marihuana ist jetzt auch nicht im Zentrum der Wahl. Ich mache mehr zu Verkehr.“ Der Kandidat erklärt den Jugendlichen die Pannen des Verteidigungsministers in der „Euro Hawk“-Affäre und dass man Elektroautos noch stärker fördern müsse. Er spricht über Atompolitik und die Energiewende.
„Mögen Sie Merkel?“, fragt eines der Mädchen plötzlich.
„Sie macht einen schlechten Job. Und niemand weiß, wofür Merkel überhaupt steht, wohin sie mit Deutschland will.“ Carstensen will jetzt noch über die CSU und das Betreuungsgeld sprechen. Aber das Mädchen unterbricht ihn. „Sagen Sie einfach Nein!“
Dirk Marx hat gespart, damit er sich den Wahlkampf leisten kann. Er wird demnächst in Altenheime ziehen, bei Bürgern klingeln. Er ist niemandem etwas schuldig. „Ich muss niemandem in den Arsch kriechen“, sagt Dirk Marx. Und wirkt sehr zufrieden mit sich.
Auch Christian Carstensen wirkt sehr zufrieden mit dem Wahlkampftag. „Ist auch gut jetzt“, sagt er. Unten in der Truhe liegt noch Eis für ihn und seine Helfer. Kein Wassereis, das die Wähler bekommen haben. Sondern Magnum, mit viel Schokolade.