Morgen startet für 174.000 Schüler in Hamburg der Unterricht. Für das Abendblatt trafen sich zwei Schulleiter, deren Schulen gegensätzlicher kaum sein könnten. Peter Ulrich Meyer und Peter Wenig moderierten das Gespräch.
Es sind nur 10,54 Kilometer Luftlinie. Und doch trennen das humanistische Wilhelm-Gymnasium in Harvestehude und die Stadtteilschule Stübenhofer Weg in Kirchdorf-Süd, einem sozialen Brennpunkt, Welten. Antje Westenhoff, ehemalige Direktorin des Wilhelm-Gymnasiums, und Kay Stöck, Chef der Stadtteilschule, reden über Bildung, Mobbing und soziale Spaltung.
Hamburger Abendblatt: Frau Westenhoff, Herr Stöck, mit ein paar Jahrzehnten Abstand können wir ja offen reden. Sind Sie eigentlich gern in die Schule gegangen?
Antje Westenhoff: Ja, ich war eine gute Schülerin, und ich bin gern in die Schule gegangen. Und schon damals hatte ich den großen Wunsch, Lehrerin zu werden. Die Laufbahn war dann ganz klassisch, bis hin zur Direktorin.
Kay Stöck: Meine Schullaufbahn war eher wechselhaft. Ich bin durch drei Bundesländer zur Schule gegangen, habe den Abschluss an einer Hauptschule und den Realschulabschluss in Hamburg gemacht. Dann hat mein Vater gesagt, der Junge lernt was Anständiges, der macht eine Banklehre. Erst viel später machte es bei mir Klick, ich habe auf dem zweiten Bildungsweg meine Hochschulreife erworben, studiert und bin dann Lehrer geworden.
Ähnlich unterschiedlich sind auch Ihre Schulen. Frau Westenhoff war bis zu ihrer Pensionierung im Januar 2013 Direktorin des Wilhelm-Gymnasiums, einem humanistischen Gymnasium in Harvestehude. Herr Stöck leitet eine Stadtteilschule in Kirchdorf-Süd, einem sozialen Brennpunkt, einer Schule in besonderer Lage, wie man heute sagt. Passenderweise liegt hier auf dem Lehrertisch ein Stapel mit Anträgen an die Sozialbehörde auf Zuschüsse für Klassenausflüge.
Stöck: Ja, das ist für uns Alltagsgeschäft. Rund 45 Prozent der Eltern unserer Schüler bekommen staatliche Transferleistungen, in der Regel Hartz IV. Die Schüler nehmen sich selbst die Formblätter, wir zeichnen gegen, fertig.
Westenhoff: Am Wilhelm-Gymnasium haben wir inzwischen auch einige Kinder aus sozial schwachen Familien, etwa zwei bis drei pro Klasse. Ich finde die Durchmischung sehr gut. Um Stigmatisierungen zu vermeiden, regeln wir das sehr diskret mit den Eltern.
Herr Stöck, Schule in einem sozialen Brennpunkt, was heißt das eigentlich konkret? Wie hoch ist etwa der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund?
Stöck: Brennpunkt heißt bei uns, dass der überwiegende Teil unserer Schülerinnen und Schüler lernen will und Lust hat auf Leistung, um später was zu werden. Das muss unbedingt betont werden. Rund 85 Prozent haben Migrationshintergrund. Wir haben Kinder aus etwa 20 Nationen, bei uns trifft sich die Welt. Und rund 30 Prozent der Schüler, die bei uns in der 5. Klasse anfangen, haben große Leistungsdefizite. Tests zeigen, dass rund 50 Prozent der Drittklässler in Wilhelmsburg das Niveau von Erstklässlern haben. Diese Defizite werden dann weitergetragen, bis zum Einstieg in die Stadtteilschule. Und der ist für viele hart, die müssen richtig arbeiten, denen fällt so schnell nichts in den Schoß. Brennpunkt heißt aber auch für uns, hier musst du arbeiten wollen. Hier wird harte Arbeit geleistet. Das ist in manchen Jahrgängen auch grenzwertig. Viel Dank ist dir aber gewiss.
Aber die meisten Kinder besuchen doch zuvor einen Kindergarten.
Stöck: Richtig, aber da bin ich inzwischen ein Stück desillusioniert. Offenbar sind die allerersten Jahre im Elternhaus doch zu wichtig. Die Kinder brauchen dort ein Anregungsmilieu, damit ihre natürliche Neugier geweckt wird. Aber wenn sie daheim nie mal etwas entdecken können, in der Natur, im Zoo, im Theater, im Spiel mit den Eltern, durch Vorlesen, und keine Fragen beantwortet bekommen, ist das unter den Rahmenbedingungen kaum noch oder nur schwer auszugleichen. Hier muss mehr investiert werden. Diese Kinder dürfen wir nicht verlieren.
Sie müssen doch wütend sein auf Eltern, die sich so wenig um ihre Kinder kümmern.
Stöck: Natürlich ist das ärgerlich. Den Kindern fehlen Impulse. Aber ich lasse das nicht zu sehr an mich ran. Unser Job ist es, diese Kinder, wie sie hier ankommen, so gut es geht zu fördern, sie zu unterstützen und zu begleiten. Wir sind für einen nicht unerheblichen Teil sehr wichtige Bezugspersonen geworden. Die Frage, ob die Eltern mehr hätten tun müssen, ist am Ende müßig. Fakt ist, wir tun das für unsere Schülerinnen und Schüler.
Ihre Klientel, Frau Westenhoff, ist in der Regel eine ganz andere. Aber auch am Wilhelm-Gymnasium gibt es ganz bittere Momente. Etwa, wenn Sie einem Schüler nach der 6. Klasse sagen müssen, es reicht nicht fürs Gymnasium.
Westenhoff: Natürlich ist dies für die Betroffenen schwierig. Es sind fast immer Kinder, die mit sehr schwachen Grundschulzeugnissen bei uns angemeldet wurden. Ich habe mir in diesen Fällen unterschreiben lassen, dass die Anmeldung entgegen unserer Beratung erfolgt. Aber wir sind sehr stolz darauf, dass von im Schnitt etwa neun nicht empfohlenen Kindern pro Jahrgang am Ende nur zwei oder drei das Gymnasium verlassen müssen. Und auch das versuchen wir so gut wie möglich zu gestalten, indem wir schon zu Beginn der 6. Klasse nach einer geeigneten Alternative schauen. Ein bitteres Scheitern ist es natürlich dennoch.
Wie hoch ist die Quote der Schüler am Stübenhofer Weg, die ganz ohne Abschluss die Schule verlassen?
Stöck: Das ist von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Rund zehn Prozent. Denen konnten wir dann am Ende trotz aller Mühen nicht helfen.
Zwei von drei Schülern mit großen Leistungsdefiziten kommen also durch, das ist doch ein guter Wert.
Stöck: Ja, das sehe ich auch so. Sie haben einen Abschluss. An dieser Stelle: Kompliment an mein Kollegium. Aber wir müssen auch ehrlich sein. Etwa 40 Prozent schaffen nur den ersten Abschluss, vergleichbar mit dem früheren Hauptschulabschluss, mit zum Teil schlechten Noten. Die Zeugnisse reichen dann einfach nicht für eine gute Perspektive auf dem Arbeitsmarkt.
Am Gymnasium kann jetzt nach der 6. Klasse niemand mehr sitzen bleiben. Das muss doch jemanden mit einem konservativen Bildungsverständnis wie Sie, Frau Westenhoff, fuchsen.
Westenhoff: Im Gegenteil, ich finde das gut. Früher schwebte die drohende Nichtversetzung immer wie ein Damoklesschwert über den Schülern. Jetzt haben wir ein Unterstützungssystem für leistungsschwächere Schüler mit speziellen zusätzlichen Lerngruppen. Und das funktioniert hier auch gut.
Aber insgesamt ist doch der Stress durch G 8, also nur noch zwölf statt 13 Jahren zum Abitur, massiv gestiegen. Viele Schüler klagen, dass sie für Hobbys überhaupt keine Zeit mehr haben. Ist der Leistungsdruck zu hoch?
Westenhoff: Am Wilhelm-Gymnasium machen wir andere Erfahrungen. Wir haben die Schüler des ersten G-8-Jahrgangs befragt und überwiegend positive Rückmeldungen erhalten. Die Schüler sagen, dass sie durch die längere tägliche Unterrichtszeit mehr Gelegenheit hatten, ihre Freundschaften in der Schule zu pflegen. Die Lerngruppen sind besser zusammengewachsen. Wir achten allerdings darauf, dass täglich um 15 Uhr der Regelunterricht endet. Dann ist immer noch genügend Zeit, um zumindest ein Hobby zu pflegen.
Sie sind also gegen die Initiative, die in Hamburg für die Rückkehr zu G 9 kämpft?
Westenhoff: Eine Rückkehr wäre eine Katastrophe. Die Lehrer haben so viel Energie in den Umbau auf G 8 gesteckt, noch einen solchen Wirbel können wir nicht gebrauchen. Letztlich ist es alles eine Sache der richtigen Organisation. Ich habe als Schulleiterin sehr darauf geachtet, in den Klassen fünf bis zehn straffer zu arbeiten, damit der Druck in der Oberstufe nicht zu groß wird.
Stöck: Was sollen denn unsere Schüler sagen? Gemessen an dem, wo sie herkommen, sind die geforderten Lernzuwächse im Vergleich zum Gymnasium eher noch höher. Und ich verstehe sowieso nicht, warum der Begriff Leistungsdruck so negativ besetzt ist.
Das überrascht uns.
Stöck: Wieso? Welche Chancen hätten sie sonst? Die müssen lernen, das auszuhalten. Dieser Druck ist nicht permanent, muss aber immer wieder mal aufgebaut werden.
Wir dachten, dass Sie als Leiter einer solchen Schule eher der typische Kumpeltyp sind. Und am liebsten gar keine Noten verteilen würden.
Stöck: Zum einen bin ich ein Siezer. Für meine Kolleginnen und Kollegen bin ich der Herr Stöck, der Chef. Und das gilt genauso für meine Schülerinnen und Schüler. Und zum anderen habe ich überhaupt nichts gegen Noten. Es können auch Berichte sein, wenn sie klar verständlich sind. Aber wir brauchen Klarheit. Ich finde, wir haben da in Teilen noch viel zu viel Verständnis. Als Lehrer müssen wir Orientierung geben und Schülern auch mal sehr klar sagen, mein lieber Freund, mit diesen Leistungen hast du keine Chance. Und auch klare Grenzen setzen. Nur mit Verständnis wird man keinen Erfolg haben. Und den sollen meine Schülerinnen und Schüler und meine Kolleginnen und Kollegen haben.
Frau Westenhoff, Sie zählten zu den engagierten Gegnerinnen der Primarschulreform, die eine sechsjährige gemeinsame Grundschulzeit bedeutet hätte. Ein Volksentscheid stoppte diese Reform. Sind Sie darüber immer noch froh?
Westenhoff: Ja, ich finde es besser, dass das Gymnasium nach wie vor mit der 5. Klasse startet. Nehmen wir nur das Fach Latein. Könnten wir damit erst in der 7. Klasse beginnen, wäre es unmöglich, dass die Kinder sich schon wie jetzt in der 9. Klasse mit den philosophischen Gedanken der Antike beschäftigen, statt nur zu übersetzen. Zudem wird am Wilhelm-Gymnasium in der 5. Klasse der Leistungsstand jedes Schülers erhoben. Besonders begabte Schüler werden besonders gefördert. Auch dies wäre bei sechs Jahren Primarschule weggefallen. Wir brauchen eine Förderung der Elite.
Herr Stöck, Sie werden das anders sehen.
Stöck: Ich bin eindeutig für ein gemeinsames Lernen bis zur 9. Klasse. Unsere Erfahrungen mit Klassen, die von der Vorschule bis zum ersten und zweiten Abschluss zusammenbleiben konnten, beweisen das Gegenteil. Der Mix macht’s. Guter Unterricht und gute Heterogenität. Wir bräuchten hier dringend leistungsstärkere Schüler, Sprachvorbilder, Neugiervorbilder. Ich habe hier Schüler, die wissen gar nicht, wie das ist, wenn man sich mal anstrengen muss. Für die sind Mitschüler, die sich mehr Mühe geben, ganz schnell Streber. Die werden dann schnell mal stigmatisiert, um die eigene Bequemlichkeit zu verstecken.
Aber dann geht das doch zulasten der besseren Schüler, die zu wenig gefördert werden.
Stöck: Das ist ja eine Behauptung. Ich weiß gar nicht, ob die mal wissenschaftlich überprüft worden ist. Unsere Erfahrungen mit diesen Klassen sind überaus positiv. Die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler in diesen Jahrgängen kommen sehr wohl zu ihren Leistungen, um etwa den Übergang in die Oberstufe zu schaffen. Letztlich ist das eine gesellschaftliche Frage. Was wollen wir? Wollen wir eine Gesellschaft, die sich immer tiefer spaltet? Dann müssen wir so weitermachen. Oder wollen wir eine Gesellschaft, die auch die mitnimmt, die weniger Chancen haben. Dann müssen wir uns und die Rahmenbedingungen ändern.
Westenhoff: Das Problem ist doch, Herr Stöck, dass es diese Spaltung in Hamburg längst gibt. Mit längerem gemeinsamen Lernen hätten Sie zwar die Schüler des Gymnasiums Wilhelmsburg an Ihrer Schule. Aber grundsätzlich würde sich doch nichts Entscheidendes ändern. In Blankenese ist die Klientel nun mal eine ganz andere.
Zum Ausgleich bekommen Sie in Wilhelmsburg ja auch eine deutliche höhere Stundenzuweisung. Die Klassen sind kleiner, Sie haben zudem mehr Sozialarbeiter.
Stöck: Das stimmt. Aber massiv würde ich das nicht nennen. Unsere Aufgaben sind ja auch massiv gewachsen. Inklusion mit Kindern, die früher auf einer Förderschule waren. Den Ganztag, den Ausbau der Berufsorientierung, die Umwandlung von einer Haupt- und Realschule in eine inklusive Stadtteilschule. Die Entwicklung von Konzepten, Konzepten und Konzepten. Mal abgesehen von den pädagogischen Herausforderungen. Wir haben viele Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen. Wir leisten hier jeden Tag Beziehungsarbeit.
Was meinen Sie damit konkret?
Stöck: Wir müssen die Klassen aufbauen wie kleine Familien. Das heißt, meine Kolleginnen und Kollegen müssen Interesse an ihren Schülerinnen und Schülern über die unterrichtliche Leistung hinaus aufbauen. Meine Kollegen fragen immer wieder nach: Wie geht es dir? Was ist los mit dir? Kann ich dir helfen? Wie geht es deiner kleinen Schwester? Wie geht es dem Vater? Das zieht sich durch den ganzen Tag, auch durch die Pausen. Viele Gespräche neben dem Unterricht. Das kostet sehr viel Kraft.
Was machen Sie mit Schulschwänzern?
Stöck: Zu denen fahren wir nach Hause. Wir fragen nach: Warum warst du nicht in der Schule? Wieso bist du wieder nicht gekommen? Wir handeln sofort. Meine Kolleginnen und Kollegen kennen ihre Schülerinnen und Schüler und können ganz schnell einschätzen, was los ist.
Haben Sie Angst, dass Ihre Kollegen ausbrennen?
Stöck: Natürlich, wir beobachten das sehr genau, um rechtzeitig zu reagieren. Die Kolleginnen und Kollegen sind hier permanent gefordert. Das ist meines Erachtens nicht so sehr eine Frage der Zeit, sondern eine der Intensität. Wir schauen auch, dass die Zahl der Stunden in den 5. und 6. Klassen, die häufig problematisch sind, begrenzt bleiben. Das ist harte Arbeit. Hier setze ich mich für mehr Entlastung ein, über das, was wir intern machen können. Ab Ende der 7. Klasse wird es in der Regel etwas einfacher.
An Gymnasien scheint Mobbing via Internet-Plattformen zu wachsen. Immer wieder werden sehr schlimme Fälle öffentlich.
Westenhoff: Das hat in der Tat in den letzten Jahren zugenommen. Ein Fall am Wilhelm-Gymnasium war so heftig, dass ein via Internet von zwei Oberstufenschülern verunglimpfter Schüler unsere Schule verlassen wollte. In solchen Fällen muss man ein ganz klares Stoppzeichen setzen. Das ist ein wirklich interessantes Phänomen. Mit mündlichen Ermahnungen kommt man kaum weiter. Aber sobald die Schule mit schriftlichen Maßnahmen reagiert, stehen die Eltern auf der Matte. So war es auch in diesem Fall. Ich habe dann eine Klassenkonferenz einberufen, ein sehr demokratischer Vorgang mit Beteiligung der Lehrer, Schüler- und Elternvertreter. Gemäß unserem Schulgesetz wurde in diesem Verfahren entschieden, dass die beiden Schüler das Wilhelm-Gymnasium verlassen müssen. Dieser Prozess hat viel Kraft gekostet. Aber solche Entschlossenheit spricht sich rum, das lohnt sich.
Stimmt es eigentlich, dass immer mehr Eltern juristisch gegen Noten vorgehen?
Westenhoff: Ja, dies ist gestiegen. Aber ich habe alle Fälle gewonnen, zumeist hat das Verwaltungsgericht schon im Vorfeld signalisiert, dass die Beschwerde keine Chance hat. Aber das geht nur, wenn die Lehrer die Leistungen der Schüler gut dokumentieren. Sie dürfen da nicht eine Note für Beteiligung am Unterricht plötzlich aus dem Hut zaubern.
Wie sind Ihre Kontakte zu den Betrieben in der Umgebung?
Stöck: Gut, wir geben uns da viel Mühe und finden viel Unterstützung auf den Elbinseln durch die Bildungsoffensive der IBA. Ich würde mir auch wünschen, dass mehr Schüler nach dem ersten oder zweiten Bildungsabschluss eine Ausbildung machen. Vielleicht ist es Bequemlichkeit, ach, Arbeit ist viel zu anstrengend, da gehe ich doch lieber weiter zur Schule. Oft wäre es viel besser, zunächst eine Ausbildung zu machen – und dann vielleicht noch mal zur Schule zu gehen oder zu studieren. Ich habe es ja auch so gemacht. Das würde vielen meiner Schülerinnen und Schüler interessantere Wege eröffnen. Aber der 3. Abschluss, also das Abitur, steht ja zur Zeit sehr im Fokus der öffentlichen Debatte. Warum soll das an meinen Schülerinnen und Schüler vorbeigehen?
Sind bei Ihnen Handys erlaubt?
Westenhoff: Das wurde zu meiner Zeit ganz intensiv diskutiert, wir haben dazu eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Hausordnung entsprechend überdenken wollte. Ich finde es besonders in den Klassen fünf bis sieben problematisch. Die Kinder daddeln dann lieber in der Pause Spiele, statt sich zu bewegen.
Stöck: Bei uns sind Handys grundsätzlich verboten. Aber zunehmend nutzen Kollegen ihr Smartphone im Unterricht, um im Internet auf Wikipedia etwas nachzusehen. Daher wird das schwierig.
Dürfen Ihre Schüler und Schülerinnen in der Mittagspause die Schule verlassen?
Westenhoff: Ein ganz schwieriger Punkt. Am Wilhelm-Gymnasium haben wir eine Kantine mit nur 100 Plätzen für insgesamt 700 Schüler. Die anderen Schulen in der Umgebung haben ein ähnliches Problem. Dies führte zu einer Art „Mittagspausen-Vandalismus“. Die Zahl der Vorfälle im Einkaufszentrum Pöseldorf war zwischenzeitlich so gestiegen, dass Wachpersonal engagiert wurde. Manche Kunden haben in der Mittagszeit das Einkaufszentrum gar nicht mehr betreten.
Stöck: Bei uns ist es verboten, das Schulgelände zu verlassen. Die Eltern wissen, dass die Kinder dann nicht mehr über die Schule versichert sind. Aber natürlich büxen trotzdem welche aus, ich will ja auch keinen Zaun um das Gelände ziehen. Aufsichten müssen ausreichen.
Westenhoff: Gehen die dann auch in ein Einkaufszentrum?
Stöck: Nein, wir gehen Penny (lacht).
Sie spielen an auf die oft persiflierten Zwei- oder Drei-Wort-Sätze von Schülern mit geringer Sprachkompetenz. Wie groß ist dieses Problem?
Stöck: Wir haben Schüler, die fast ohne Deutschkenntnisse kommen und dies in Vorbereitungsklassen in einem gigantischen Tempo nachholen. Dies sind in der Regel Schüler, deren Eltern die Muttersprache gut beherrschen. Die Kinder haben dann ein entsprechendes Sprachgefühl. Schwierig ist es immer dann, wenn auch die Muttersprache daheim nur eher unzureichend gesprochen wird.
Und wie steuern Sie dagegen?
Stöck: Mit Sprachförderung und Förderkursen. Und indem wir immer wieder direkt sagen: Das kannst du doch besser. Du weißt doch, wie ein richtiger Satz geht. Ähnlich ist es bei verbaler Gewalt. Wir intervenieren sofort. Mein Zimmer ist ja mittendrin, und die Tür steht fast immer offen. Das Problem ist nur, dass die Schüler nach der Schule oft wieder mit ihren Gruppen zusammen sind, wo dieser spezielle Jargon wieder gepflegt wird.
Sind Sie für Schuluniformen, um zumindest den Klamotten-Neid einzudämmen?
Westenhoff: Eher nicht, wir haben sehr schöne Schulkleidung, die auf freiwilliger Basis angezogen werden kann. Von Zwang halte ich nichts, dafür sind unsere Schüler auch zu individuell. Zudem können Sie Mobbing mit Uniformen nicht verhindern. Dann gibt es Neid auf eine besonders modische Uhr oder besonderen Schmuck.
Stöck: Ich habe prinzipiell nichts gegen einheitliche Schulkleidung. Aber damit mag sich mein Nachfolger beschäftigen, wenn er denn mag.
Wie sehr ist das Anspruchsdenken an den Schulen gewachsen? Nach dem Motto: Hier ist mein Kind, jetzt seht mal zu, dass es einen guten Abschluss bekommt.
Westenhoff: Am Wilhelm-Gymnasium gibt es viele Eltern, die sich ganz intensiv engagieren. Aber insgesamt wird schon mehr an die Schule delegiert. Die Haltung, die Schule soll es irgendwie richten, wächst. Und wenn es dann nicht reicht, wird Nachhilfe nachgeschoben. Dadurch steigt zwar nicht die Bildung, aber zumindest das Wissen und damit die Chance auf ein passables Abitur.
Gibt es bei Ihnen ein Drogenproblem?
Westenhoff: An der Schule selbst nicht. Anders sieht es mitunter bei abendlichen Partys im Innocentiapark oder an der Alster aus. Ich hatte einen ganz guten Kreis von elterlichen Zuträgern, die der Schule wohlgesonnen waren und mir gesagt haben, wo wir mal etwas genauer hinschauen sollen. Prinzipiell ist das dann allerdings nicht mehr das Thema der Schule.
Herr Stöck, wie gehen Sie eigentlich mit Ihrer ganz persönlichen Frustration um, etwa wenn wieder ein Schüler scheitert?
Stöck: Zunächst gilt: Ich jammere nicht, da ich mir diesen Job freiwillig ausgesucht habe. Ich wollte genau an eine solche Schule und immer wieder nach Chancen für unsere Schülerinnen und Schüler suchen. Und zum anderen habe ich dieses so wunderbar engagierte Kollegium. Sonst würde ich es auch nicht aushalten.
Das Gerede über Lehrer als „faule Säcke“, geprägt einst von Altkanzler Gerhard Schröder, muss Sie doch fürchterlich aufregen.
Stöck: Da kann ich Sie beruhigen, das hat sich gedreht. Wir erfahren hier viel Anerkennung von den Eltern. Die wissen, was wir schaffen. Hier könnte die Öffentlichkeit gerne nachziehen.
Westenhoff: Das ist bei uns nicht anders. Gerade zu meinem Abschied habe ich von den Eltern sehr viel Dank und Lob für das Kollegium erfahren.
Eine letzte Frage: Würden Sie mit Ihren Jobs gerne tauschen, wenn es möglich wäre?
Stöck: Ich wäre sofort dabei.
Westenhoff: Ich auch. Ich bin zwar in Sachen Bildung konservativ eingestellt, aber werde meine Wurzeln nie vergessen. Ich komme aus einem klassischen Arbeiterhaushalt und überlege derzeit, ob und wie ich benachteiligten Kindern helfen kann.
Stöck: Sie wären bei uns herzlich willkommen. Ich finde ohnehin, dass wir uns viel mehr öffnen müssen. Die Schule darf kein geschlossener Raum mehr sein. Und wir müssen auch offener und ehrlicher miteinander reden. Über unsere Herausforderungen, über unsere Probleme. Es nützt überhaupt nichts, wenn nur alles schöngeredet wird. Zahlen sind das eine, Realitäten das andere. Respektvoller und gemeinsamer Umgang mit den Problemen von Schule. Hier in Wilhelmsburg haben wir bewiesen, dass das funktionieren kann.