Die Jugendämter haben bei 107.000 Kindern in Deutschland geprüft, ob sie in ihren Familien gefährdet sind. 2012 wurde das erstmals statistisch erfasst. Nur Hamburg beteiligte sich nicht.

Hamburg/Wiesbaden. Hunger, Schläge, Dreck, sexueller Missbrauch und psychische Gewalt: Im vergangenen Jahr sind nach Einschätzung der Jugendämter bundesweit rund 38.000 Kinder wegen Misshandlungen gefährdet gewesen, 17.000 davon akut. Insgesamt wurden rund 107.000 Verfahren zu sogenannten Gefährdungseinschätzungen eingeleitet, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte.

Vergleichszahlen gibt es nicht, da die Erhebung neu ist. Auffällig ist nur, dass sich Hamburg als einziges Bundesland nicht an der Erhebung beteiligte.

„Ergebnisse für Hamburg konnten nicht berücksichtigt werden, da die nötigen Einzeldaten nicht geliefert wurden“, erklärt Jürgen Delitz, Sprecher des Statistikamts Nord. Dabei sind die Jugendämter seit 2012 gesetzlich dazu verpflichtet, Daten zu jeder Meldung der Kindeswohlgefährdung zu erheben und an die zuständigen Behörden weiterzuleiten; in Hamburg an das jeweilige Bezirksamt.

Dass dieses Verfahren in allen anderen Bundesländern eingehalten wurde und nur in der Hansestadt nicht, hat laut der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) logistische Gründe. „Über jede Kindeswohlgefährdungsmeldung, die bei einem Jugendamt eingeht, ist seit 2012 ein vierseitiger Statistikbogen auszufüllen“, sagt Behördensprecher Olaf Dittmann.

Die Vorschrift sei erst sehr kurzfristig in das Gesetz aufgenommen worden. „Deshalb konnte der damit verbundene erhebliche Arbeitsaufwand nicht sogleich automatisiert erledigt werden.“ Eine händische Bearbeitung der Statistikbögen hätte den Dienstbetrieb in den Jugendämtern erheblich beeinträchtigt, erklärt Dittmann weiter.

Die Konsequenz daraus: „Hamburg wird für das Jahr 2012 eine qualifizierte Schätzung der Daten nachliefern“, so Dittmann. Wann das geschehe, steht nach Angaben der Sozialbehörde allerdings noch nicht fest. Für das Berichtsjahr 2013 sei die Datenlieferung über ein IT-Verfahren dagegen sichergestellt.

Laut der Erhebung des Statistischen Bundesamts wiesen bundesweit zwei von drei Kindern, bei denen eine akute oder latente Gefährdung vorlag, Anzeichen von Vernachlässigung auf. In 26 Prozent der Fälle gab es Hinweise für psychische Misshandlung.

Knapp ein Viertel der Kinder zeigten Zeichen körperliche Misshandlung. Fünf Prozent wurden Oper sexueller Gewalt. In 68.000 Fällen wurde zwar keine Kindeswohlgefährdung erkannt, aber in jedem zweiten dieser Verfahren ein Bedarf an begleitender Hilfe durch das Jugendamt festgestellt.

Am häufigsten (17 Prozent) machten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft das Jugendamt auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aufmerksam. Bei rund 15.000 Verfahren (14 Prozent) waren es Bekannte oder Nachbarn, gefolgt von Schulen oder Kindertageseinrichtungen mit 13 Prozent. Gut jeden zehnten Hinweis erhielten die Jugendämter anonym. Jedes vierte der betroffenen Kinder war jünger als drei Jahre.

„Das europäische Ausland berichtet – soweit es Zahlen gibt – deutlich höhere Zahlen“, sagt Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (dji). Ein möglicher Grund: „In Deutschland liegt die Schwelle, Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen zu können, bewusst unterhalb der Gefährdung. Das ist nicht überall in Europa so.“

Die neue Statistik ist nach Einschätzung von Kindler ein guter Einstieg. „Wir wussten ja lange überhaupt nicht, wie viele Kinder im Jahr solche Überprüfungen erleben“, sagt der Psychologe. Allerdings seien erste Statistiken relativ gefährdungsanfällig und Zeitreihen notwendig, um Aussagen treffen zu können.

Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes bereits eingetreten ist oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist und dies von den Sorgeberechtigten nicht abgewendet wird.

Die Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls sind im Sozialgesetzbuch geregelt (§ 8a Abs. 1 SGB VIII). Darin heißt es unter anderem: „Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen.“ Paragraf 99 (Abs. 6) schreibt die amtliche Erhebung vor, die 2012 im Zuge der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes erstmals angeordnet wurde.