Es bewegt sich etwas in Wilhelmsburg, der Elbinsel mitten in Hamburg. Der vernachlässigte Stadtteil südlich der Elbe wird von der Wirtschaft neu entdeckt und geschätzt. Kompetenzzentrum für Ingenieure geplant.
Hamburg. Das Gebäude ist längst fertig, zumindest die Entwürfe und Konzepte. Was da an der Georg-Wilhelm-Straße in Wilhelmsburg neu entsteht, gibt es sonst eher bei Medizinern – Ärztehäuser mit Experten verschiedener Disziplinen unter einem Dach. So etwas Ähnliches soll das Ingenieurwerk auch werden, ein Kompetenzzentrum für Ingenieure, Architekten, Konstrukteure aus vielen gängigen Fachbereichen. Geschäftsführer Ulf Inzelmann und seine Mitstreiter treiben das Projekt mit Begeisterung voran. In diesem Herbst soll der Bau beginnen, ein Jahr später das Haus seiner Bestimmung übergeben werden. „Im Ingenieurwerk arbeiten selbstständige Unternehmen in einem Netzwerk, vom Innenarchitekten über den Bauingenieur bis hin zu Fachleuten für den Umweltschutz. Wir wollen gemeinsame Stärken nutzen und unseren Kunden komplette Lösungen über Fachgrenzen hinweg anbieten – das geht am besten in einem neuen Gebäude“, sagt Inzelmann.
Es bewegt sich etwas in Wilhelmsburg, der Elbinsel mitten in Hamburg. Jahrzehntelang galt der Stadtteil als rückständig, vernachlässigt, von sozialen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit geplagt. Die Internationale Bauausstellung (IBA) und die internationale Gartenschau (igs), die nach jahrelanger Vorarbeit im März und im April ihre Pforten für das Publikum geöffnet haben, brachten Wilhelmsburg einen enormen Schub an stadtplanerischer Entwicklung, an neuem Selbstbewusstsein und an Aufmerksamkeit weit über Hamburg hinaus. Deutlich wird dabei auch, dass Wilhelmsburg viele Chancen hat, den öffentlichen Raum, das Wohnen und die Wirtschaft im Einklang miteinander zu gestalten.
„Es gibt in Wilhelmsburg eine große industrielle Tradition. Die kann aus sich heraus wachsen und sich weiterentwickeln, der Stadtteil ist nicht abhängig von Neuansiedlungen großer Unternehmen“, sagt Andy Grote, Leiter des Bezirksamts Hamburg-Mitte, der das Abendblatt zu zwei Firmenbesuchen in Wilhelmsburg begleitet. „Der Neubau des Ingenieurwerks soll als Dienstleistungsgebäude genau zwischen einem Industrieareal und einem Wohnviertel entstehen. Das zeigt sehr gut, wie Stadtplanung heutzutage in Wilhelmsburg funktioniert.“
Die zentrale Lage und die gute Anbindung des Stadtteils waren ein entscheidendes Argument für die Macher des Ingenieurwerks. „Vom S-Bahnhof Wilhelmsburg bis hierher könnte man mit Mietfahrrädern oder bei den Busanbindungen sicher noch etwas verbessern“, sagt Inzelmann. „Aber wichtig ist für uns: Unser Firmensitz ist per Bahn, Auto und Flugzeug hervorragend mit der Welt verbunden. Die Entscheidungsträger für unsere Projekte sitzen längst nicht mehr nur im Bezirksamt Mitte, sondern zum Beispiel auch bei der EU-Kommission in Brüssel.“
Spätestens im neuen Gebäude soll das Netzwerk kräftig weiterwachsen, von jetzt einem Dutzend Firmen mit rund 100 Mitarbeitern auf später einmal 20 bis 25 Partnerunternehmen. Gesucht werden etwa Experten für erneuerbare Energien, für Verfahrenstechnik oder für Informationstechnologie. „Wir haben in einem jahrelangen Prozess diskutiert, abgewogen und letztlich entschieden, in Wilhelmsburg zu bleiben“, sagt Inzelmann, „der zentralen Lage und der guten Flächensituation wegen, aber vor allem auch, weil dieser Stadtteil völlig neu entsteht. Das entspricht unserem Streben, die Arbeitswelt unserer Mitgliedsfirmen im Ingenieurwerk neu zu denken und zu organisieren.“
Wilhelmsburg vereint viele Facetten von Hamburg in einem Stadtteil. Es verbindet schmucke Gründerzeitfassaden und Klinkerbauten aus der Nazizeit, Mietskasernen aus den 1960er-Jahren und modernste Architektur aus den Projekten der Internationalen Bauausstellung. Es macht einen monströsen Flakbunker aus dem Zweiten Weltkrieg zum Öko-Kraftwerk für das lokale Strom- und Wärmenetz. Es hat die alte Maßschneiderei, in deren Schaufenster nach einem halben Jahrhundert die Werbung vergilbt, und schicke Designerläden nebenan. Es zeigt den bürgerbewegten Studenten und den tätowierten Südländer im knappen T-Shirt, beide bei der Ortsbegehung mit Gleichgesinnten. Elbblick gibt es hier reichlich, etwa vom Reiherstiegviertel aus, im östlichen Teil des Hafens, wo große Lager für leere Container stehen.
Kaum tritt der Stadtteil auch in der Wahrnehmung Außenstehender aus seiner langen Lethargie heraus, ertönen schon die üblichen Debatten um Mietpreisexplosion und Verdrängung der Alteingesessenen, um Luxussanierung versus Stadtteilkultur, um Geld kontra Geborgenheit, Neudeutsch: um „Gentrifizierung“. Wird Wilhelmsburg das nächste Schanzenviertel oder Ottensen? „Man kann das in keiner Weise vergleichen“, sagt Piroska Csösz, Leiterin der Abteilung Wirtschaftsförderung beim Bezirksamt Hamburg-Mitte. „Im Schanzenviertel und in Ottensen wurden Flächen und Gebäude nach dem Auszug von Industrie und Gewerbe meist schnell in sehr teure Wohnimmobilien oder Büroraum umgewidmet. Das ist in Wilhelmsburg anders. Es gibt im wahrsten Sinne mehr Raum für Entwicklung, man kann Altes und Neues viel besser miteinander verbinden.“
Die Wilhelmsburger Wirtschaft umfasst die gesamte Bandbreite, vom kleinen Dienstleistungsunternehmen bis hin zum international tätigen Logistiker – der Spedition Hellmann – und Industrieunternehmen wie Räder-Vogel, Weltmarktführer bei der Herstellung von Schwerlasträdern und -rollen. Dutzende Firmen aus etlichen Branchen wurden in den vergangenen Jahren neu gegründet. „Wilhelmsburg hat großes wirtschaftliches Potenzial, ideale Verkehrsanbindungen und viele Flächen, die für Industrie und Gewerbe noch erschlossen werden können“, sagt Jan-Oliver Siebrand, Abteilungsleiter Stadtentwicklung bei der Handelskammer Hamburg. „Gerade die Stadt verfügt dort über viele eigene Flächen, mit denen sie aktive Ansiedlungspolitik betreiben kann, etwa östlich des Reiherstiegs. Einige Flächen müssten allerdings sicher erst saniert und auf Bomben und Munition aus dem Zweiten Weltkrieg hin untersucht werden.“
Wilhelmsburg entwickelte sich in den vergangenen Jahren weniger auffällig als der südliche Nachbarstadtteil Harburg. Dort trieb der Bauunternehmer Arne Weber die Sanierung und Neuvermietung eines ganzen Quartiers voran, das für seine alte Bestimmung nicht mehr benötigt wurde und zu verfallen drohte. Vor allem Hochtechnologie-Zulieferer für den Flugzeugkonzern Airbus zogen in die modernisierten Gebäude des sogenannten Channel Harburg und schufen dort neue Arbeitsplätze. In Wilhelmsburg wiederum gibt es mehr Kontinuität, aber auch mehr Vielfalt. „Unternehmen wie Mankiewicz, Hellmann oder Räder-Vogel sind dem Stadtteil seit Jahrzehnten treu“, sagt Siebrand. „Hinzu kommen in den vergangenen Jahren erfreuliche Neuansiedlungen wie das Ingenieurwerk oder Rolls-Royce Marine Systems.“
Die Erfolgsgeschichte des Ingenieurwerks geht, historisch betrachtet, vor allem auf Michael Grau zurück. Der Chef und Eigner des Unternehmens Mankiewicz sitzt in seinem weitläufigen Büro und berichtet von den alten Zeiten. In den 1930er-Jahren hatte sein Großvater die Firma gekauft. Seit er 1972 ins Unternehmen eingetreten war, machte Grau daraus den weltweit drittgrößten Hersteller für Industrielacke mit heutzutage 220 Millionen Euro Jahresumsatz und 1000 Mitarbeitern, davon etwa 300 im Ausland. „Um unser Gelände von Altlasten wie Chemikalien zu befreien und um Expertise zu bündeln, habe ich vor Jahren die Firma Umco gegründet“, erzählt Grau. Umco ist längst verkauft und als selbstständiges Unternehmen heute Teil des Ingenieurwerks auf dem Nachbargrundstück.
Grau schwärmt von den Bedingungen in Wilhelmsburg, von den Flächen, die Mankiewicz eine beständige Ausdehnung erlauben, von den Verkehrsverbindungen, der guten Mischung von Wirtschaft, Wohnen und Freizeit, zu der auch Kleingartensiedlungen zählen. Und er lobt den lokalen Arbeitsmarkt, trotz der Arbeitslosenquote, die noch immer oberhalb von zehn Prozent liegt, gegenüber rund sieben Prozent in Hamburg insgesamt: „Wir können Mitarbeiter exzellent aus dem Stadtteil heraus anwerben“, sagt Grau. „Obwohl die Arbeitslosigkeit anderes vermuten lässt, finden wir immer genügend gut qualifizierte Leute.“ Grau und Bezirksamtsleiter Grote betrachten einen städtischen Bebauungsplan von 1965, der grundlegend heute noch gilt. „Eine solche Mischung von Industrie-, Gewerbe- und Wohnflächen in dieser Größe und Zentralität gibt es sonst nirgends in Hamburg“, sagt Grote. „Und der stadtplanerische Puffer zwischen Wohnen und Industrie funktioniert hier.“
Die beiden internationalen Großveranstaltungen könnten Wilhelmsburg einen Boom bescheren, der manch Alteingesessenem zwar unheimlich sein dürfte, der den viel beschworenen „Sprung über die Elbe“ aber endlich voranbringen würde, die Annäherung des nördlichen und des südlichen Hamburgs. Mankiewicz-Chef Grau ist stolz darauf, dass sein Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten zu einem „Wilhelmsburg-Faktor“ geworden ist: „Wilhelmsburg ist eine goldene Mitte für Hamburg. Und ehrlich gesagt habe ich gar nicht so viel Interesse, Werbung dafür zu machen. Unser Glück lag ja bislang hier quasi im Verborgenen.“