Asiaten kaufen Milchpulver in deutschen Drogerien auf. Die Hersteller produzieren Tausende Tonnen zusätzlich, Hamburger Händler müssen den Verkauf rationieren. Und ein völlig neuer Wirtschaftszweig ist entstanden.
Der junge Mann nennt sich im Internet „DerFleißigeStudent“. Er gibt an, dass er 22 Jahre alt sei und im neunten Semester studiere. Er hat eine Geschäftsidee: Er will Babynahrung nach China exportieren, und zwar im großen Stil. Dazu sucht er in einem Online-Forum einen Mittelsmann. „Durch Geschäftskontakte in der Lebensmittelbranche wären Lieferungen in größeren Mengen zu günstigeren Konditionen ohne Probleme durchführbar. Bitte nur seriöse Antworten.“
„DerFleißigeStudent“ brauchte nicht lange auf Antworten zu warten. Er „bringe langjährige Erfahrung im Bereich Handel und Transport mit (spezialisiert auf China)“, wirbt ein möglicher Geschäftspartner. Ein anderer hat schon konkrete Vorstellungen, wie das neue Geschäft aussehen soll: Man brauche einen chinesischen Geschäftspartner, der sich um das Geschäft vor Ort kümmere. Nüchtern analysiert er: „Der Markt und Bedarf an Babynahrung sowie Nahrungsergänzungsmitteln ist vorhanden.“
China hat ein Milchpulver-Problem. Und was für eins: Im Jahr 2008 starben mindestens sechs Babys, weil chinesische Großmolkereien verseuchtes Milchpulver auf den Markt gebracht hatten. 300.000 Säuglinge mussten damals wegen Nierenschäden behandelt werden. Auch in den vergangenen Monaten gab es neue Skandale: So fanden staatliche Kontrolleure Quecksilberspuren in Babymilch. Eine andere Firma flog auf, weil sie abgelaufenes Milchpulver falsch etikettiert in den Handel gebracht hatte.
Kurzum: Das Vertrauen in das heimische Milchpulver ist in China dahin. Die Nachfrage aber ist riesig: In China leben rund 50 Millionen Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren. Viele von ihnen werden nicht von ihren Müttern gestillt. Frauen in China kehren früh ins Arbeitsleben zurück – zum Stillen haben sie schlichtweg keine Zeit.
Eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Zentral- und Westchina ergab: Nur 58 Prozent der Neugeborenen im Alter von bis zu 27 Tagen werden ausschließlich gestillt. Im Alter von bis zu vier Monaten sinkt die Rate auf 29 Prozent, nach einem halben Jahr werden nur noch 14 Prozent der Babys ausschließlich gestillt. Chinesische Eltern füttern also zu, vor allem mit Milchpulver.
Da sie der heimischen Industrie misstrauen, werden sie woanders fündig: in Deutschland.
Seit Anfang des Jahres leeren sich die Regale in den Drogeriemärkten. Besonders nachgefragt: die Anfangs- und Folgemilch (Aptamil und Milumil) des Herstellers Milupa. Und die Milchnahrung des Herstellers Hipp. Im April waren die Regale in vielen Märkten leer.
Es ist schon ein wenig skurril: Es sind nicht etwa Rohstoffe wie Öl, Trinkwasser oder seltene Erden, um die der Kampf entbrannt ist. Sondern der Rohstoff Milch.
Wie ist die aktuelle Lage? Ein Rundgang durch Drogeriemärkte in Eimsbüttel. An den Regalen, in denen Babynahrung steht, kleben Hinweiszettel. „Wir arbeiten rund um die Uhr an einer Lösung“, verspricht der Hersteller Milupa den Kunden. Und der Konzern entschuldigt sich für den Aufwand.
Worin dieser Aufwand besteht, merkt man an der Kasse. Bei Budni am Müggenkamp ist das Regal mittlerweile zwar wieder gefüllt mit den Trockenmilch-Dosen. Wer aber auf Vorrat einkaufen will, wird an der Kasse enttäuscht. „Wir verkaufen nicht mehr als zwei Packungen pro Person“, sagt eine Kassiererin. „Einige versuchen es dennoch und wollen dann diskutieren.“ Grundsätzlich habe sich die Situation aber entspannt.
Auch ein paar Gehminuten weiter, in der Rossmann-Filiale am Heußweg, stehen wieder ausreichend Trockenmilch-Produkte in den Regalen. Nur Aptamil 3, Folgemilch ab dem 10. Lebensmonat, fehlt im Regal. Eine Mitarbeiterin erklärt auf Nachfrage, dass das Produkt erst am nächsten Tag wieder geliefert werden könne. „Das kommt leider häufiger mal vor.“
Die Drogerieketten haben den Verkauf von Trockenmilch rationiert. Während Bundnikowsky nur zwei Packungen pro Einkauf gewährt, sind die Verkäufer von Rossmann angewiesen, Milchnahrung nur in „haushaltsüblichen Mengen“ zu verkaufen. Wie viel das ist, bleibt den jeweiligen Verkäufern überlassen.
Christoph Werner, Geschäftsführer der Drogeriemarktkette dm, spricht zwar von einer „leichten Entspannung der Belieferungssituation“. „In Summe kann die Nachfrage nach Milchnahrung aber nach wie vor nicht voll gedeckt werden.“ Auch bei dm werden die Produkte rationiert verkauft, um Hamsterkäufe zu verhindern.
Die Hersteller haben mittlerweile auf die Nachfrage aus Fernost reagiert. Milupa hat im ersten Quartal etwa 1500 Tonnen Milchpulver produziert. Bis zum dritten Quartal des laufenden Jahres wird die Produktion um mehr als 1000 Tonnen erweitert.
Auch Hipp aus dem bayerischen Pfaffenhofen produziert jetzt mehr Milchnahrung: Statt an fünf Tagen pro Woche wird an sieben Tagen Milchpulver produziert, dazu wurden neue Mitarbeiter eingestellt. Erst im Herbst werde sich die Lage entspannen. Der Markt wachse im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent, teilte Hipp-Sprecherin Sandra Hohenlohe mit. Zu genauen Mengen dürfe sie keine Informationen herausgeben, Geschäftsgeheimnis.
Stefan Stohl, Sprecher von Milupa, erklärt sich die Nachfrage aus China mit dem guten Ruf von „Made in Germany“. Doch der Boom hat auch seine negativen Seiten. Das Unternehmen im hessischen Friedrichsdorf habe Tausende Anrufe bekommen in den vergangenen Wochen, sagt er. Zum einen von besorgten deutschen Müttern, die um die Ernährung ihrer Kinder bangen. Zum anderen von Geschäftemachern.
Da waren die Studenten, die anriefen. Sie wollten einen Online-Shop mit Milupa-Produkten machen. Ob das okay wäre? Dann meldete sich ein Großunternehmer. Er wollte 100.000 Päckchen Milchpulver kaufen, um sie in China weiterzuverkaufen, natürlich mit Aufschlag. Ob das okay wäre? Und dann meldete sich eine Stewardess der Lufthansa, die ein paar Päckchen für Freunde in Peking mitnehmen wollte. Ob das okay wäre? Das Unternehmen, das zum Danone-Konzern gehört, lehnte alle Anfragen ab.
Die Regale werden von Chinesen, die in Deutschland leben, leer gekauft. Von chinesischen Gaststudenten, die Trockenmilch-Packungen nach Hause schicken – zu Verwandten und Freunden. Häufig steckt guter Wille dahinter. Häufig auch Profitgier.
Die Internetseite Taobao ist ein Auktionshaus wie Ebay. Eine 800-Gramm-Packung der Anfangsmilch Aptamil von Milupa wird für 278 chinesische Renminbi angeboten – umgerechnet 34 Euro. Zum Vergleich: In Deutschland kostet die Packung um die 12 Euro.
Eigentlich kann Milupa froh sein über die neuen Kunden aus China. Dennoch fällt die Freude gedämpft aus. Milupa-Sprecher Stohl spricht von „Magengrummeln“. „Seit mehr als 90 Jahren verkaufen wir Produkte an deutsche Eltern. Wenn sie die Produkte nicht mehr bekommen, schadet das dem Vertrauen in unsere Produkte.“
Aber auch der unkontrollierte Warenexport ins ferne Asien bereitet Stefan Stohl Sorgen: „Wir müssen wissen, wohin unsere Produkte geliefert und wo sie verkauft wurden. Das geht in China nicht.“
Warum expandiert der Konzern dann nicht nach China? Auch keine einfache Sache. Die Nährstoffe und die Zubereitungsanleitung müssten in chinesischer Schrift auf die Verpackung gedruckt werden. Und nicht nur das. Sogar für die Nährstoffzusammensetzung gibt es in China andere Vorgaben als in der EU. Und außerdem gebe es schon eine Tochterfirma in China, die Trockenmilch herstellt. Die Frage für Milupa ist nur: Vertrauen die Chinesen einem chinesischen Milupa-Produkt, das nicht mehr „Made in Germany“ ist? Wohl eher nicht.
Die chinesische Regierung wirbt unterdessen für die heimische Milchpulver-Industrie. Und das Stillen. In der Stadt Guangzhou im Süden des Landes hat sich mittlerweile eine Selbsthilfegruppe der besonderen Art gegründet: eine Bank zur Verteilung von Muttermilch. Junge Frauen sollen die Muttermilch, die sie nicht mehr für ihr eigenes Baby brauchen, abgeben. Damit der Durst auf Milch gestillt wird.