1989 in Leipzig berichtete Matthias Gretzschel als freier Mitarbeiter für die Kirchenzeitung “Sonntag“

Als die SED-Spitze ihren Pekinger Genossen im Juni 1989 zur blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung gratulierte, war die "Pekinger Lösung" auch für Leipzig eine Option. Montag für Montag provozierten fromme Christen und mutige Oppositionelle in der sächsischen Messestadt die ostdeutschen Machthaber mit Gebeten, mit Aufrufen und immer öfter auch mit Demonstrationen.

Kaum vorstellbar, dass in einer so angespannten Situation eine kirchliche Großveranstaltung stattfinden konnte. Andererseits wäre eine Absage für die SED eine gewaltige Blamage gewesen. "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst", hieß das Motto des Leipziger Kirchentags, den der Bund der evangelischen Kirchen in der DDR vom 6. bis zum 9. Juli 1989 überhaupt nur veranstalten durfte, weil die Kirchenverantwortlichen den Staatsorganen fest zugesagt hatten, die politischen Unruhegeister ruhigzustellen.

Als freier Mitarbeiter der sächsischen Kirchenzeitung "Sonntag" arbeitete ich im Kirchentagspressebüro und berichtete von den Gottesdiensten, Konzerten, Bibelarbeiten und Diskussionsrunden. Auch wenn es oft unausgesprochen blieb, bewegte uns an diesen heißen Frühsommertagen nur ein einziges Thema: Wie geht es weiter in diesem Land, dem die Menschen scharenweise davonlaufen? Und was steht uns in Leipzig womöglich bevor?

Die ehrlichsten und radikalsten Fragen stellten die kirchlichen Basisgruppen, die die Kirchentagsleitung offiziell ausgesperrt hatte, die sich aber unbeirrt in der Lukaskirche zu ihrem "Statt-Kirchentag" trafen. Sie waren es auch, die sich nach dem Abschlussgottesdienst auf der Leipziger Rennbahn zu einem Demonstrationszug formierten und ein großes Transparent entrollten. "Demokratie" stand in Chinesisch und Deutsch darauf, ein Protest gegen die Fälschung der DDR-Kommunalwahl im Mai und gegen das Massaker auf den Platz des Himmlischen Friedens.

Ich lief damals mit in Richtung Innenstadt und wurde so Zeuge, wie Stasi-Leute in einer ebenso lächerlichen wie hilflosen Aktion aus einer beschlagnahmten Straßenbahn stürmten und den Trägern das Spruchband aus den Händen rissen.

Vor allem diese Szene habe ich in Erinnerung, wenn ich an den Kirchentag denke, der für mich immer der wichtigste bleiben wird.