Senat plant Abriss historischer Zinnwerke und Neubau für Kulissen und Kostüme. Bezirksamtsleiter ist skeptisch, IBA-Chef dagegen.
Hamburg. Wilhelmsburg Das Wohnungsbauprogramm des Senats bringt immer mehr Künstler und Gewerbetreibende in Bedrängnis. Die Hinterhöfe und Lagerhallen, in denen sie sich eingerichtet haben, werden geräumt und mit Wohnungen bebaut. Im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel führt das gerade zu einem skurrilen Verdrängungsprozess. Dort sollen Kreative und Kleinunternehmer, die sich auf einem zwei Hektar großen Gelände der städtischen Sprinkenhof AG angesiedelt haben, dem Fundus der Hamburgischen Staatsoper weichen. In dem bis zu 18 Meter hohen Neubau sollen Kostüm-, Masken- und Kulissenfundus sowie die Dekorationswerkstätten zusammengefasst werden. Momentan ist der Bestand an mehreren Standorten untergebracht – unter anderem auf einer Fläche in Barmbek-Nord. Dort, zwischen Steilshooper Straße und Dieselstraße, sollen 675 Wohnungen entstehen.
Der Beschluss der Senatskommission für Stadtentwicklung und Wohnungsbau, der durch Zufall in die Öffentlichkeit gelangte, sorgt im Stadtteil für Unmut. Pikant für den Senat: Auch Uli Hellweg, Geschäftsführer der gerade in Wilhelmsburg eröffneten Internationalen Bauausstellung (IBA), sieht das Vorhaben skeptisch. Denn vom Abriss bedroht ist auch die Fachwerkhalle der 1903 gegründeten Wilhelmsburger Zinnwerke direkt am Veringkanal. Hier haben sich viele Kulturschaffende eingemietet, darunter die Macher der Fernsehsendung „Konspirative Küchenkonzerte“.
„Hochkultur darf die Kultur der Basis nicht verdrängen“, sagt Hellweg, der bereits einen Brandbrief an die Kulturbehörde geschrieben hat. Die Bauausstellung habe bewusst eine kulturell geprägte Entwicklung am Veringkanal gefördert. Zudem erschwere der Neubau durch seine Massivität den Zugang zu dem neu gestalteten Kanalufer. Damit widerspreche das Projekt der Philosophie der IBA, Zugänge zu den Wasserflächen auf den Elbinseln sowie eine frühe Bürgerbeteiligung zu schaffen.
„In den ehemaligen Zinnwerken ist eine wertvolle Kreativnutzung entstanden, die unterstützungswürdig ist und nicht leichtfertig aufgegeben werden darf“, sagt auch Bezirksamtsleiter Grote. Man müsse sorgfältig prüfen, wie sehr die Kreativen auf den Standort angewiesen seien.
Der Charme dort ist rau: ein Mix aus Gewerbe- und Brachflächen, alten Backsteinbauten, Schiffen – und Kultur. Zu den Nachbarn gehören SoulKitchen, Honigfabrik und die Lifemusikbar Tonne, wo sich eine lebendige Szene entwickelt hat. Seit 2011 gehören dazu auch die Zinnwerke. Hauptmieter ist Marco Antonio Reyes Loredo, der mit seiner Hirn und Wanst GmbH die Gastro-Pop-Show „Konspirative Küchenkonzerte“ produziert. Sie ist Kult und wurde bereits zwei Mal für den Grimme Preis nominiert. Loredo hat an weitere Kreative untervermietet – darunter Bildhauerin Antje Truelsen, Jörg Ehrnsberger von der Bildungsinitiative Teach First, die Film- und Grafikstudenten der Gruppe Zinn und Eva Steindorf, die sich um die Wiederbelebung des Wilhelmsburger Rialto-Kinos kümmert. Auch der Getränkemarkt von Klaus Meerkötter ist in der alten Werkshalle angesiedelt. Bis vor zwei Jahren saß der seit 1954 bestehende Familienbetrieb im Bunker an der Neuhöfer Straße. Als die IBA diesen zu einem Öko-Kraftwerk umbaute, wurde ihm der Standort am Veringhof angeboten. „Der Laden läuft gut. Wir wollten ihn in zwei Jahren verkaufen und uns mit dem Geld zur Ruhe setzen“, sagt Meerkötter. Letzte Woche hat er von der Sprinkenhof AG die Kündigung erhalten. Jetzt hat er Angst, zum Sozialfall zu werden.
Auch die Mietverträge mit Autoteile-Händler Oktay Akkaya und der Autolackiererei Dirik, beide seit vielen Jahren Nachbarn der Zinnwerke, wurden letzte Woche von der SpriAG gekündigt. Auch Loredo rechnet mit einer zeitnahem Kündigung. ,„Die Pläne des Senats bringen 36 Arbeitplätze in Gefahr“, sagt er. Fast alle, die hier arbeiteten, wohnten in Wilhelmsburg und seien miteinander und im Stadtteil gut vernetzt. Mit seiner Produktionsfirma im Alleingang an anderer Stelle weiterzumachen, kann er sich nicht vorstellen. „Wir wollen diesen Standort gemeinsam weiter entwickeln.“ Es gebe sogar weitere Interessenten: etwa die Musiker von Deichkind und die Mosterei „Das Geld hängt an den Bäumen“.
Wie das Abendblatt erfuhr, bewertet eine 2012 in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie von vier geprüften Standorten die Fläche Am Veringhof als die zweitschlechteste. Gründe sollen das sehr hohe Kostenrisiko für den Abbruch der Bestandsgebäude sein, die Beseitigung des kontaminierten Bodens sowie die Höhe des Bauvorhabens. Für geeigneter hält die Studie Flächen in Billbrook und Moorfleet. Darauf angesprochen, gibt sich die Finanzbehörde zugeknöpft. Ein Sprecher: „Aus gesamtstädtischen Gründen hat sich der Senat für den Standort Am Veringhof 1 bis 7 ausgesprochen.“
Diese Antwort hat auch Christa Goetsch, Kulturexpertin der Grünen in der Bürgerschaft, auf ihre kleine Anfrage erhalten. „Die Standortentscheidung des Senats ist nicht nachvollziehbar“, sagt sie. Eine gewachsene Kultur- und Kreativszene in Wilhelmsburg werde mit einem Schlag zerstört. Auch die Bezirkspolitiker sind empört. Im Regionalausschuss Wilhelmsburg wurde am Dienstag ein interfraktioneller Antrag gestellt, der die Vorlage der Machbarkeitsstudie fordert. Außerdem sollen sich Stadtentwicklungsbehörde, SpriAG und das zuständige Fachamt im Ausschuss äußern. Am Mittwochabend wurde der Opernfundus auch in der Bürgerschaftssitzung thematisiert.