Dank ihrer Klassenkameraden darf Fabiola aus Honduras in Hamburg bleiben. Für ihr Engagement werden die Schüler nun ausgezeichnet.

Hamburg. Auf den ersten Blick ist es wie vorher. Fabiola Cruz sitzt auf ihrem Platz, an der Wand hinten links. Zwischen den anderen. Wenn sie redet, fallen ihr die dunkeln Locken ins Gesicht. In wenigen Minuten beginnt der Unterricht nach der Pause. Eine Deutschstunde im 12. Jahrgang der Altonaer Max-Brauer-Schule. Es geht um das Thema Migration. Es sind die gleichen Schüler, die gleiche Lehrerin, der gleiche Klassenraum wie vor zwei Monaten - und trotzdem ist etwas anders. "Ich frage mich manchmal, wie es wäre, wenn der Platz jetzt leer bliebe", sagt Ilayda und schaut hinüber zur Mitschülerin. Auf einmal wird es still. Alle wissen: Dass die 18-Jährige dort sitzt, ist alles andere als selbstverständlich.

Die Geschichte von Fabiola Cruz hatte Ende vergangenen Jahres für Schlagzeilen gesorgt. 2006 war ihre Mutter Gabriela mit den drei kleinen Töchtern aus Honduras nach Deutschland gekommen, hatte seitdem illegal in Hamburg gelebt. Die Ausländerbehörde lehnte deshalb den Antrag der Familie auf Aufenthaltsgenehmigung ab - die Abschiebung drohte. So sieht es das Gesetz vor. Dass sich die Mädchen inzwischen bestens integriert hatten, wurde nicht berücksichtigt, obwohl sie sich als Klassensprecherinnen und bei den Pfadfindern engagieren. Fabiola Cruz tanzt zudem leidenschaftlich gern Salsa - vor allem aber ist sie auf dem Weg zu einem guten Abitur. Der Fall landete in der Härtefallkommission der Bürgerschaft. Es ist die letzte Chance, weil das Gremium auch außerhalb des rechtlichen Rahmens ein Bleiberecht aussprechen kann - eine Art Gnadenrecht. Die Berichterstattung darüber löste eine beispiellose Welle der Solidarität aus. Am 6. Dezember 2012 stoppten die Politiker die Abschiebung.

"Wir sagen uns jeden Tag, wie frei wir uns fühlen", sagt Fabiola Cruz. Wochenlang hatte die Familie gekämpft, vor allem die Schulen der Mädchen engagierten sich. "Meine Klasse ist meine Basis", betont sie. Ihrer Lehrerin Marianne Kerkmann und ihren Mitschülern hatte sie sich in ihrer Not irgendwann anvertraut, hatte ihnen offenbart, dass sie und ihre Familie illegal in dieser Stadt leben.

Illegal, das bedeutet: keine Aufenthaltspapiere, keine ärztliche Versorgung, keine offiziellen Arbeitsmöglichkeiten. Die Kinder können eine Schule besuchen, eine Grauzone ermöglicht dies. Es gibt keine genaue Zahl, wie viele Menschen ohne Aufenthaltspapiere in Hamburg leben. Aber es sind Tausende. Gabriela Cruz war diesen Weg gegangen, weil sie hoffte, ihren Kindern die Chance auf Bildung abseits von der Gewalt in ihrer Heimat zu geben. Wie sie es geschafft hat, lässt sie im Ungefähren. Sie sagt, sie hat jede Hilfe angenommen. Zum Schluss war ihre Tochter Fabiola, die es nicht mehr aushielt: das Leben im Verborgenen, die ständige Angst vor der Entdeckung. Nach dem Geständnis hielt die Klasse zu ihr. Die Schüler schrieben Briefe, organisierten einen Protestzug durch die Innenstadt, sammelten mehrere tausend Unterschriften. Ihre Facebook-Seite "Fabiola MUSS bleiben" hatte mehr als 3000 Unterstützer. "Es war uns wichtig, dass so viele Menschen wie möglich hinter Fabiola stehen", sagt Laura, die Freundin von Fabiola Cruz. "Sie ist eine von uns. Sie wurde nur zu etwas anderem gemacht."

Für ihren Einsatz bekommen die 24 Zwölftklässler der Max-Brauer-Schule am heutigen Sonntag den Bertini-Preis. Die Auszeichnung für junge Menschen mit Zivilcourage wird seit 1998 immer am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, verliehen. Der Name erinnert an den Roman "Die Bertinis" des Hamburger Schriftstellers Ralph Giordano. In diesem Jahr werden sechs Preise vergeben.

Ermuntert zu der Bewerbung hatte Lehrerin Marianne Kerkmann ihre Schüler im Profil "Sprachen und Kulturenvielfalt". Dass es geklappt hat, freut alle sehr. "Aber wir haben es nicht allein geschafft", betont Kerkmann. "Die Klassen von Andrea und Maria Cruz waren genauso aktiv wie viele Eltern und Freunde. Wir bekommen den Preis stellvertretend für alle Unterstützer."

Auch Klassenkamerad Johnny nickt. "Es ist eine Anerkennung, weil es allen zeigt, dass man etwas bewegen kann", sagt der Junge mit den grünen Haaren. Wichtig ist den Jugendlichen aber noch etwas anderes: "Die Unterstützungsaktion hat uns wachgerüttelt, die Klasse zusammengeschweißt", sagt Max. Und das Bewusstsein gestärkt, auch das politische. "Ich weiß jetzt viel mehr zu schätzen, welche Möglichkeiten ich hier in Deutschland habe", sagt Soner.

Es ist nicht das erste Mal, dass Schüler in Hamburg gegen die Abschiebung von Klassenkameraden mobil machen. Vor zwei Jahren hatte der Fall der Einser-Abiturientin Kate Amayo aus Ghana eine Debatte über das Bleiberecht von gut ausgebildeten Jugendlichen ausgelöst. Selenora aus Serbien, Melania aus Armenien, und gerade ganz aktuell Ayodele aus Nigeria - sie alle sind gut integriert, arbeiten ehrgeizig und engagieren sich - trotzdem müssen sie um ihre Zukunft fürchten, weil das Gesetz für sie keine rechtliche Möglichkeit vorsieht, in Deutschland zu bleiben. Hamburg hat im vergangenen Jahr eine Bundesratsinitiative gestartet, um die Bedingungen für diese jungen Menschen zu verbessern. "Kinder sollen nicht die Fehler ihrer Eltern ausbaden", hatte Innensenator Michael Neumann (SPD) gesagt. Allerdings: Selbst wenn die Reglung schon in Kraft wäre, würde sie nur für langfristig Geduldete gelten - nicht für Menschen, die illegal in Deutschland gelebt haben. So wie Fabiola Vruz und ihre Schwestern.

Aber es ist etwas in Bewegung geraten. Die Debatte ist aus dem politischen Raum in die breite Öffentlichkeit gelangt. Die Betroffenen sind nicht mehr nur anonyme Fälle in den Akten von Beamten und Polizei. Sie sind Menschen mit Ängsten und Hoffnungen, mit einer Lebensgeschichte. Sie sind Freunde und Mitschüler. Auch die Klassenkameraden von Ayodele Medaiyese auf der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg haben das Schicksal des 18-jährigen Fußballtalents via Facebook öffentlich gemacht. Mehr als 20.000 Unterstützer hat die Kampagne schon. Auch dieser Fall wird vor der Härtefallkommission verhandelt, am 6. Februar. Auch dieses Mal muss der Beschluss einstimmig fallen.

Dass das Ausländerrecht auch bei einem positiven Votum kompliziert bleibt, zeigt die Entscheidung für die Familie Cruz. Deren Situation ist fast zwei Monate nach dem Termin keineswegs geklärt. Denn die Härtefallkommission hatte für die drei Mädchen ein Bleiberecht nach Paragraf 23a des Aufenthaltsgesetzes bewilligt. Das Bleiberecht der Mutter ist an das ihrer minderjährigen Töchter gekoppelt. "Ich habe noch keine Papiere bekommen", sagt sie. Doch die Zeit drängt. Schon seit Dezember hat die 37-Jährige das Angebot, bei einem Pflegedienst zu arbeiten. Bislang hat die Ausländerbehörde ihr aber nur eine halbjährige Aufenthaltserlaubnis zugesagt, ohne die Möglichkeit, zu arbeiten oder Kindergeld zu beantragen. Dafür wiederum braucht sie eine Arbeitserlaubnis von der Arbeitsagentur, die aber nur nach einer so genannten Vorrangprüfung erteilt wird - also, wenn es theoretisch keinen anderen Arbeitnehmer gäbe, der die Stelle besetzen könnte.

Ihre Anwältin hat dieses Angebot noch nicht akzeptiert. Gabriela Cruz sagt, dass sie so schnell wie möglich arbeiten möchte. Sie könnte auch Hartz IV beantragen - aber das kommt für sie nicht infrage. Zumal, und das ist eine weitere Komplikation, eine Verlängerung ihres Aufenthaltsrechts daran geknüpft werden soll, dass sie selbst den Lebensunterhalt der Familie sichert. "Wir warten, wir müssen Geduld haben", sagt die Mutter.

Auch Tochter Fabiola lebt noch mit einer Duldung. Noch. In den nächsten Wochen wird sich das ändern und sie bekommt ihre Aufenthaltserlaubnis. Endlich. Es ist nur ein Papier, aber für sie bedeutet es Freiheit. "Ich komme mir vor wie jemand anderes", sagt Fabiola Cruz. "Ich habe keine Sorgen mehr, muss mich nicht mehr verstecken." Und sie kann sich wieder konzentrieren, arbeitet viel für die Schule. Das normale Leben einer Zwölftklässlerin. "Es ist so, als wenn ich mich neu kennenlerne."