Um den Betrug mit ICE-Monatstickets zu beenden, ändert die Bahn im Dezember ihre Beförderungsbedingungen. Ein Reisereport.
Hamburg. Noch gibt es am Hamburger Hauptbahnhof einige junge Männer wie Luther. Mit großer Nervosität im Blick geht er den Bahnsteig auf und ab und sucht seine "Kunden". Das Mobiltelefon trägt er ständig in der Hand. Er nestelt daran herum wie an einem Rosenkranz, denn wenn er einen Kunden verpasst, verliert er bares Geld.
Seine Investition beträgt 652 Euro, das Geschäftsmodell ist simpel: Mit seinem ICE-Monatsticket kann er an Sonnabenden bis zu vier Personen auf der Strecke zwischen Hamburg und Berlin mitnehmen. Es ist ein Zusatzangebot der Deutschen Bahn AG, das Kunden, die die teuren Zeittickets erwerben, ermöglicht, am Wochenende mit Freunden oder der Familie zu verreisen. Luther aber kennt seine Mitfahrer nicht.
Sein Angebot für 20 Euro pro Person und Strecke hat er auf dem Mitreiseportal mitfahrgelegenheit.de inseriert. Früher waren es einmal bis zu 25 Euro, doch die vielen Mitbewerber auf der Strecke nach Berlin haben den Preis in diesem illegalen Geschäft bereits erheblich gedrückt. Laut Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn ist es nicht erlaubt, "die Mitnahme gegen Zahlung eines Entgeltes anzubieten".
Luther trägt eine weite Jeans und eine Daunenweste gegen die Kälte während der Wartezeiten. In einer Bauchtasche hat er Wechselgeld. Er wartet an Gleis acht, Abschnitt D - in den anderen Abschnitten warten weitere Monatsticket-Schlepper, die sich untereinander über ihre Standorte absprechen, um nicht aufzufallen.
Die Strecke zwischen Hamburg und Berlin ist beliebt bei ihnen. Hier sind viele Pendler unterwegs und die Fahrt dauert pro Richtung nur eine Stunde und 40 Minuten. Rund siebenmal kann Luther dadurch pro Sonnabend zwischen der Elbmetropole und der Hauptstadt hin- und herfahren, verdient damit bei durchgängig vier Mitfahrern rund 2200 Euro monatlich. Ein äußerst lukratives Geschäft bei nur vier Arbeitstagen im Monat, das die Schlepper zum Teil bereits seit Jahren betreiben.
Vom 9. Dezember an soll damit jetzt Schluss sein. Denn dann verändert die Bahn im Zuge eines Fahrplanwechsels auch ihre Beförderungsbedingungen. "Bahnkunden mit einer Monats- oder Jahreskarte können ab dann an Sonnabenden eine erwachsene Person und drei eigene Kinder oder Enkel gratis mitnehmen", sagt Bahn-Pressesprecher Egbert Meyer-Lovis. Es dürfte das Ende der Monatsticket-Schlepperei im ICE sein.
Doch noch läuft das Geschäft gut. Jeden Sonnabend stehen Reisende auf dem Weg nach Berlin am Hamburger Hauptbahnhof und halten Ausschau nach ihren Vermittlern. Dass sie sich dabei selbst strafbar machen, weil sie eine Fahrt ohne gültiges Ticket erschleichen, scheinen sie nicht zu wissen oder wenigstens zu verdrängen. Zu befürchten haben die Mitfahrer nur wenig. Schwerlich können die Kontrolleure der Bahn nachweisen, dass die Gruppe dem Ticketinhaber Geld für die Mitreise zahlt.
Gleis acht am Hamburger Hauptbahnhof. Ein Sonnabendnachmittag. Auf Luther warten heute ein junges türkisches Pärchen aus Hamburg und eine italienische Studentin aus Berlin, die ihren Hund dabei hat. Der vierte Fahrgast ist der Abendblatt-Reporter, mit den 20 Euro für den Ticket-Schlepper sowie einem gültigen Bahnticket in der Tasche.
Als Luther mit Verspätung auftaucht, wirkt er schüchtern, ist offensichtlich nervös. Auf Türkisch spricht er mit einem seiner Kollegen, der nicht alle Mitfahrer finden kann und deshalb noch ein wenig aufgeregter ist, wie das türkische Paar amüsiert übersetzt.
Ein Mittzwanziger, der Türkisch spricht und dazu Luther heißt? "Ich bin schon öfter mit ihm gefahren, der heißt immer anders", sagt die italienische Studentin. "Vielleicht soll der Name Luther Vertrauen erwecken", mutmaßt sie. Er wohne, so wie auch sie, in Berlin-Neukölln, sei ein "netter Typ", sagt sie und beruhigt ihren Hund im Gedränge.
Mitfahrgelegenheit.de ist die größte Mitfahrzentrale im Internet, und damit auch das am häufigsten genutzte Portal für die Vermittlung der illegalen Mitfahrten. Das Unternehmen löscht regelmäßig Angebote, die im Verdacht stehen, gewerbsmäßig betrieben zu werden. Und so stellen die Schlepper immer wieder neue Angebote unter anderem Namen ein. Ihre Handynummer tarnen sie mit zufällig ausgewählten Zeichen zwischen den einzelnen Ziffernblöcken, damit automatische Prüfprogramme sie nicht aufstöbern und löschen können.
Bei aktuell rund 750 000 Fahrtangeboten liege die Anzahl der unerlaubt kommerziell betriebenen Fahrten aber im Promillebereich, sagt Simon Baumann, Pressesprecher von mitfahrgelegenheit.de. Die meisten kommerziellen Angebote gebe es für Autofahrten. "Das Problem mit dem Mitfahr-Betrug bei der Bahn dürfte ab Dezember aber gelöst sein", sagt Baumann.
Als der ICE am Bahnsteig einfährt, drängt Luther als Erster in den Waggon. Mit großem Eifer sucht er ein freies Abteil, in das er seine Fahrgäste routiniert einweist. Die Gruppe beginnt angeregt über den hektischen Vermittler zu sprechen.
Ein weiterer Fahrgast schaltet sich ein, fragt nach dem gezahlten Preis und ob der junge Mann von eben ein "Ticketdealer" sei. Er selbst habe als Frühbucher für die Strecke Kiel-Berlin 66 Euro bezahlt, regulär. Ein guter Preis, findet er.
Als er hört, dass die Reisegruppe des Schleppers nur 20 Euro pro Person zahlt, staunt er. Der reguläre Preis ab Hamburg beträgt rund 29 Euro, wenn man früh bucht und ein Sparticket ergattert. Kurzentschlossene zahlen ohne Ermäßigungen bis zu 90 Euro. Die Bahn hat dem Betrug wohl auch deshalb jahrelang zugesehen, weil die Kunden der Monatsticket-Schlepper aus Kostengründen vermutlich eher auf Auto-Mitfahrgelegenheiten ausweichen würden als Bahnkunden zu werden.
Luther patrouilliert derweil unermüdlich auf dem Gang. Als der Kontrolleur kommt und die Fahrkarten sehen will, geht alles ganz schnell. Der Schlepper steht in der Abteiltür, zeigt auf seine vier Mitfahrer und hat sein Ticket griffbereit. Der Kontrolleur winkt die Gruppe unaufgeregt durch. Vielleicht hat er Luther heute sogar schon einmal gesehen. Es ist die vierte Fahrt des jungen Schleppers an diesem Sonnabend.