Hamburg will Vorreiter bei der Inklusion behinderter Menschen sein. Doch für das Zentrum an der Universität ist plötzlich kein Geld mehr da.

Hamburg. Es war ein wirklich schöner Nachmittag. Die Stadt Hamburg hatte ins Rathaus geladen. Zur Feier des Tages gab es Sekt. Der Sozialsenator sprach von Integration und Teilhabe von behinderten Menschen. "Ich gratuliere den Preisträgern zu dieser Auszeichnung, mit der ihre Arbeit in besonderer Weise gewürdigt wird." Dann überreichte er eine Urkunde an die Mitarbeiter des Zentrums für Disability Studies. Sie hatten den Senator-Neumann-Preis gewonnen, "für besondere Verdienste um die Integration von Menschen mit Behinderungen". 5000 Euro Preisgeld gab es obendrein. Das war am 24. April 2009, der Sozialsenator hieß Dietrich Wersich (CDU).

Seitdem sind dreieinhalb Jahre vergangen, die SPD regiert mittlerweile im Rathaus. Behinderte Menschen liegen Bürgermeister Olaf Scholz am Herzen. Seit diesem Schuljahr gilt an Hamburgs Schulen die Inklusion: Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen gleiche Chancen haben und überall am normalen Unterricht teilnehmen können.

Da müssten doch die sieben Mitarbeiter des Zentrums für Disability Studies (ZeDiS) genau in das Konzept des Senats passen: Sie haben in den vergangenen Jahren die Inklusion an der Uni vorangetrieben. Doch offenbar ist das nicht so. Der Senat will dem ZeDiS kein Geld mehr geben.

Gerlinde Renzelberg sitzt mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern in dem kleinen Büro, das ihnen die Uni Hamburg zur Verfügung gestellt hat. Die Professorin für pädagogische Audiologie und Hörsprachförderung ist die Projektleiterin des ZeDiS, sie macht den Job quasi ehrenamtlich. Sechs ihrer sieben Mitarbeiter sind behindert; sie sind hörgeschädigt, manche von ihnen haben auch eine Körperbehinderung.

Gerlinde Renzelberg erzählt, dass ihr Zentrum einzigartig sei in Deutschland. Sie sagt, dass seit der Gründung im Jahr 2005 etwa 2,4 Millionen Euro Fördergeld in das Projekt geflossen sei. "Wie ist es zu rechtfertigen, dass 2,4 Millionen Euro ausgegeben werden - und jetzt das Aus droht?", fragt sie.

Renzelberg hat das ZeDiS zusammen mit zwei Studenten gegründet: Jürgen Homann, von Geburt an schwer hörgeschädigt. Und Lars Bruhn, der vor 13 Jahren gegen Ende seines Studiums durch eine Krankheit taub wurde. Die beiden sind bis heute wissenschaftliche Mitarbeiter geblieben.

Homann und Bruhn hatten festgestellt, dass sich die Behindertenpädagogik nur darauf konzentrierte, wie Behinderte medizinisch behandelt werden können - oder wie sie sich an ihre Umgebung anpassen müssen. Disability Studies haben einen anderen Ansatz: Nicht die Menschen sind behindert. Sondern die Menschen werden behindert durch die Bedingungen, die sie umgeben. Wie kann man diese Bedingungen so verändern, dass Barrieren beseitigt werden, auch in den Köpfen? Das ist das Ziel des wissenschaftlichen Ansatzes, der aus den USA und Großbritannien kommt. Eine zentrale Rolle spielt die Perspektive der behinderten Menschen selbst.

Diskriminierung haben die Mitarbeiter hier alle erfahren. Anne Venter, wissenschaftliche Mitarbeiterin, war 13 Jahre alt, als sie taub wurde. In der Schule sagten die Lehrer, dass sie bleiben könne, sofern sie sich nicht verschlechtere. Sonst müsse sie auf eine Sonderschule wechseln. "Für mich war das ein komisches Gefühl", sagt Anne Venter. "Ich war doch noch die alte Anne. Ich hatte zwar eine Hörbehinderung bekommen. Aber ich war ich." Sie schaffte das Abitur, suchte nach einem Job, ging zur Arbeitsagentur. Dort bot man ihr nur einen Platz in einer Behindertenwerkstatt an, als Beschäftigungstherapie. Anne Venter sagt: "Die Gesellschaft hat mich behindert."

Gudrun Kellermann, die von Geburt an taub und körperbehindert ist, machte ähnliche Erfahrungen. Sie studierte Behindertenpädagogik, machte ihr Referendariat in einer Schwerhörigenschule. Ihre Kollegen dort waren dagegen, dass eine Hörgeschädigte andere Hörgeschädigte unterrichtet. "Ich habe mich noch nie so behindert gefühlt", sagt Kellermann.

Das ZeDiS war wie ein Befreiungsschlag für Jürgen Homann, Lars Bruhn, Anne Venter und Gudrun Kellermann. Sie organisierten Vorlesungen für alle Studenten an der Uni und auch für alle Interessierten: In diesem Semester geht es um politische Teilhabe von Behinderten, um Sprache, die jeder versteht. In Seminaren geht es um selbstbestimmtes Wohnen, um Bedürfnisse von älteren behinderten Menschen. Die Materialien aller Veranstaltungen werden ins Internet gestellt. Mit Bildschirmleseprogrammen können sich Blinde die Texte von ihren Computern vorlesen lassen.

Wenn die Mitarbeiter des ZeDiS untereinander kommunizieren, sprechen sie und benutzen unterstützende Gebärden. Bei Konferenzen hilft ihnen eine Schriftdolmetscherin, die das Gesagte aufschreibt und per Beamer an die Wand wirft. Wenn sie mit anderen kommunizieren, schreiben sie Mails. Wenn sie telefonieren müssen, bekommen sie Hilfe von Arbeitsassistenten.

Bei Vorlesungen und Seminaren allein wollten es die Mitarbeiter des ZeDiS nicht belassen. Sie entwickelten das Konzept für einen eigenen Studiengang Disability Studies.

Barrieren sollen weg. Auch an der Uni Hamburg, in der es viele Treppen gibt und keine behindertengerechten Notausgänge. Als einmal Feueralarm geprobt wurde, blieben die hörgeschädigten ZeDiS-Mitarbeiter in ihren Büros sitzen. Deshalb entwickelten sie zusammen mit Architekturstudenten der HafenCity-Universität ein "Lehrhaus für alle". Ein Haus, zu 100 Prozent barrierefrei, mit Lichtsignalanlagen für Taube, einem Leitsystem für Blinde und rollstuhlgerechten Notausgängen. Das Haus soll kein Haus für Behinderte werden, sondern eine Begegnungsstätte für Nichtbehinderte und Behinderte.

Die Arbeit von Gerlinde Renzelberg und ihren Mitarbeitern wurde nicht nur vom Senat ausgezeichnet. Auch das Paul-Ehrlich-Institut prämierte das ZeDiS mit dem Integrationspreis "Wissenschaft ohne Barrieren". Erst im vergangenen Jahr wurde das Zentrum in die "Landkarte der inklusiven Beispiele" der Bundesregierung aufgenommen.

Doch diese Ehrungen reichten offenbar nicht. Ende Oktober in der Beiratssitzung überbrachte der Vertreter der Wissenschaftsbehörde die Nachricht, dass sein Haus künftig kein Geld mehr geben könne.

Rund 430 000 Euro kostet das ZeDiS pro Jahr nach eigenen Angaben. Ein Viertel des Geldes kam bislang durch die Zuschüsse der Arbeitsagentur und durch Zuschüsse für Assistenzleistungen der behinderten Mitarbeiter in die Kasse. Die Hälfte wurde aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert. 25 Prozent des Geldes kam aus der Wissenschaftsbehörde.

Doch im Februar 2013 endet die Förderperiode des ESF, erst im Jahr 2014 beginnt die neue. Dem ZeDiS fehlen abzüglich der Mittel, die sicher sind, etwa 270 000 Euro, um im nächsten Jahr weiterarbeiten zu können.

Der Senat sieht sich nicht in der Pflicht. Warum? Die Argumentation geht so: Es sei normal, Projekte nur für einen bestimmten Zeitraum zu fördern. Ziel müsse es ja sein, dass Projekte in die Regelfinanzierung übernommen werden. Der Sprecher der Wissenschaftsbehörde erklärt: "Die Entscheidung über die regelhafte Finanzierung des Projekts liegt bei der Universität Hamburg." Diese solle das ZeDiS in ihr Hochschulbudget übernehmen.

Die Uni zeigt sich wenig begeistert: "Da es sich hier um eine über die Universität hinausgehende Angelegenheit handelt, sieht die Universität auch den Senat in der Mitverantwortung", erklärt die Sprecherin der Uni. Ob das ZeDiS in die Regelfinanzierung übernommen wird? "Hierzu sind noch keine Beschlüsse der zuständigen Organe der Universität gefasst worden." Ob es das ZeDiS weiterhin geben wird? Das kann die Sprecherin nicht sagen.

Das ZeDiS bekommt Unterstützung. Katharina Fegebank, Vorsitzende der Grünen in Hamburg, kritisiert: "Wenn das Zentrum dichtmachen muss, ist der Senat direkt dafür verantwortlich, dass ein europaweites Vorzeigeprojekt für Inklusion verschwindet."

CDU-Fraktionschef Dietrich Wersich, der damals als Sozialsenator den Preis übergeben hat, findet das Vorgehen des Senats verstörend: "Der Ansatz ist als innovativ, zukunftsträchtig und unterstützenswert erachtet worden. Es sieht so aus, als ob der Senat das ZeDiS am langen Arm verhungern lässt. Der Senat sollte sich kümmern - und nicht an andere weiterverweisen."

Wenn das ZeDiS im März schließen müsste, dann wären Jürgen Homann, Lars Bruhn, Anne Venter und Gudrun Kellermann arbeitslos. Sie befürchten, dass ihre Konzepte im Papierkorb landen. Anne Venter sagt: "Ich habe das Gefühl, dass unsere Arbeit kaputt gemacht wird. Von Entscheidungsträgern, die keine Behinderung haben - und uns nicht verstehen."