Trotz Schuldenkrise überbieten sich Regierungspolitiker in der Erfindung neuer Wohltaten
Den nahenden Wahlkampf erkennt man an der Inflation von teuren Ideen. Nachdem SPD-Chef Sigmar Gabriel am Wochenende kurzerhand die Rente mit 67, immerhin die wichtigste Sozialreform der Großen Koalition, infrage gestellt hatte, hüpfen jetzt Regierungspolitiker in die Spendierhosen: Bei der Rente plant die CDU großzügige Zusatzleistungen, die CSU möchte auf dem Koalitionstreffen das Betreuungsgeld wieder beleben, und die FDP will die Praxisgebühr beerdigen. Ausgerechnet die Regierung von Angela Merkel, die in Berlin als Saniererin des Haushalts antrat, ist in Spendierlaune. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP benimmt sich dabei wie eine übermütige Familie, die trotz hoher Schulden nur darüber streitet, wohin die nächste Fernreise gehen und welcher Geländewagen als nächster angeschafft werden soll. Wäre es nicht so tragisch, es könnte eine unterhaltsame Satire sein.
Obwohl die Steuern so üppig sprudeln wie nie, wird Finanzminister Wolfgang Schäuble im laufenden Jahr rund 30 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Zwar weist der CDU-Politiker zu Recht auf die Milliardenlasten durch den Euro-Rettungsschirm hin, er verschweigt zugleich aber, dass der Bund gerade wegen der Euro-Krise sich so günstig wie nie zuvor verschulden kann.
Wo, wenn nicht in Deutschland, soll die europäische Verschuldungskrise endlich einen Ausweg finden? Wann, wenn nicht jetzt, sollen die Haushalte eigentlich in Ordnung gebracht werden? Und wer, wenn nicht die vermeintlich "sparsame" bürgerlich-liberale Koalition, soll die Trendwende herbeiregieren? Es waren doch FDP und Union, die 2009 die Wahl mit Schlagworten wie "Generationengerechtigkeit" und Abbau der Schulden gewonnen hatten.
Ein Jahr vor den Bundestagswahlen versteht man Generationengerechtigkeit offenbar ganz anders: Die Union möchte nun die Renten für Mütter, Geringverdiener und Erwerbsunfähige erhöhen; allein diese Pläne werden mit zehn Milliarden Euro Mehrausgaben veranschlagt; die CSU kämpft vehement für die Einführung des Betreuungsgeldes, das Eltern belohnen soll, die ihre Kinder zu Hause erziehen. Dieses neue Wohlfühlprogramm dürfte 1,1 Milliarden Euro kosten. Noch stemmen sich die Liberalen zwar dagegen - doch vieles spricht dafür, dass die FDP am Ende zustimmt, sollte zugleich die Praxisgebühr fallen. Die brachten den klammen Kassen 1,5 Milliarden Euro im Jahr und führte zu weniger Arztbesuchen. Was zählen solche Zahlen, wenn es um Stimmen geht?
So wünschenswert die Pläne im Einzelnen erscheinen mögen, sie dehnen den Sozialstaat weiter aus, ja überdehnen ihn. Schon heute ist die Umverteilung kaum noch finanzierbar - und jede weitere Wohltat erhöht die Kosten. Das Elterngeld etwa wurde 2007 mit Ausgaben von zwei Milliarden Euro eingeführt, heute schlägt das Programm schon mit fünf Milliarden Euro zu Buche. Eine signifikante Erhöhung der Geburtenzahlen hat das Elterngeld nicht auslösen können; es ist inzwischen aber als Sozialleistung bei den Bundesbürgern fest eingeplant. Wahlgeschenke im Sozialbereich sind leicht verteilt und ungleich schwerer wieder einzukassieren. Wer sich als Politiker später an derlei Besitzstände heranwagt, schürt die Unzufriedenheit der Bürger, riskiert massive Proteste und erschwert Politik insgesamt. Wer heute Spielraum für Wohltaten sieht, schränkt die Gestaltungsfreiheit von morgen ein. Wer heute Geld auf Pump verteilt, belastet damit die zukünftigen Generationen: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen - und die Verarmung von übermorgen.
Wer sich wie Berlin in der europäischen Staatsschuldenkrise als Modell für Europa versteht, sollte an die eigene Politik strengere Maßstäbe anlegen.