Der “Staatsvertrag“ mit Muslimen und Aleviten bekommt viel Beifall - dabei bleiben viele Fragen offen
Da waren sich mal wieder alle einig: Der "Staatsvertrag" mit den Muslimen, den Bürgermeister Olaf Scholz ausgehandelt hat, kommt in Deutschland prima an. Die Parteien in der Bürgerschaft nicken freundlich, die Experten applaudieren, die christlichen Kirchen zeigen sich zufrieden - die Verhandlungspartner sind es sowieso. Allerdings dürften viele mit Kritik hinterm Berg gehalten haben - wer möchte schon Beifall von der falschen Seite riskieren oder gar in den Klub ewiggestriger Vordemokraten einsortiert werden? Da stimmt man lieber zu und fühlt sich als Teil der politisch korrekten Mehrheit. Zumal es gute Argumente für eine Vereinbarung der Stadt mit Muslimen und Aleviten gibt. Die Menschen leben oft seit Generationen hier, sind längst Teil des Einwanderungslands Deutschland geworden und wünschen sich feste Regelungen.
Der Vertrag regelt nun den Religionsunterricht, die Anerkennung von Feiertagen, den Bau von Moscheen oder die Trägerschaft von Kindertagesstätten. Verhandlungspartner des Senats waren die drei größten muslimischen Vereine, die nach eigener Einschätzung über 90 Prozent der über 100 000 Hamburger Muslime vertreten. Vierter Partner war die alevitische Gemeinschaft mit rund 30 000 Mitgliedern.
Ein Vertrag kann so symbolische Kraft entwickeln: "Er soll den islamischen und alevitischen Gemeinden ihre Rechte und Pflichten bestätigen und ihnen den Platz in der Mitte der Gesellschaft einräumen", sagte Olaf Scholz (SPD) am Dienstag. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen sei "ein Signal der Bereitschaft zu einem kooperativen Miteinander". Also alles in Butter? Einen weiteren Haken auf dem Fleißkärtchen des Bürgermeisters, der Vertrag an Vertrag reiht und so die Stadt regiert? Ganz so einfach ist es nicht. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob ein "Staatsvertrag" in dieser Form nötig ist. Natürlich ist Deutschland - anders als Konservative Glauben machen wollen - ein Einwanderungsland. Aber das bedeutet nicht, dass alle historisch gewachsenen Abmachungen automatisch auf Zuwanderergruppen übertragen werden. Darin liegt die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften herausbilden oder gefördert werden. Wenn muslimische Schüler bald an drei Feiertagen im Unterricht fehlen sollten, leistet dies weder einen Beitrag zu ihrer Integration noch bringt es sie und ihre Mitschüler weiter. Etwas mehr Geschichts- und Selbstbewusstsein steht den Christen in Deutschland ohnehin gut zu Gesicht. Sind Reformationstag und Opferfest in diesem Land wirklich schon Jacke wie Hose?
Auch zu den Partnern der Vereinbarung, von denen sich liberale Moslems nicht vertreten fühlen, sollte man ein paar Worte verlieren: Die Türkisch-Islamische Union (Ditib) untersteht der Leitung und Aufsicht des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten in Ankara und damit dem türkischen Ministerpräsidialamt. So albern Aufrechnungen sonst auch sind, hier zieht das Argument: Warum macht der Stadtstaat Hamburg in Verhandlungen mit der Ditip weitreichende Zugeständnisse, warum aber bewegen sich die Türken in der Frage der Christenrechte kaum? Noch immer gilt dort das staatliche Verbot, Pfarrer und Religionslehrer auszubilden, christliche Kirchen werden massiv behindert. Hat man dazu schon jemals etwas von den Hamburger Ditip-Vertretern gehört?
Auch die Schura (Rat der islamischen Gemeinschaften) ist nicht über jeden Zweifel erhaben: Der Schura-Vorsitzende ist zugleich Funktionär der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V., der der aktuelle Verfassungsschutzbericht 2011 immerhin fünf Seiten widmet. Diese Überwachung findet Milli Görüs unverständlich und hält sie für "Phobien und Ängste von Sicherheitsbeamten und populistischen Politikern". Mag sein. Und doch möchte man neben Rechten, die islamische Verbände selbstbewusst einfordern, auch etwas zu den Pflichten hören. So bekennen sich die Vertragspartner nun ausdrücklich zur "vollständigen Geltung und Achtung der staatlichen Gesetze", damit zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zu den demokratischen Grundsätzen. Mit Verlaub, das sind Selbstverständlichkeiten.
Eine Selbstverständlichkeit ist auch die Trennung von Religion und Staat - warum eigentlich wurde ein Kopftuchverzicht, wie es CDU-Fraktionschef Dietrich Wersich einfordert, nicht vertraglich fixiert? Das wäre mal ein Signal an die Mehrheitsgesellschaft gewesen. Weil wir gerade bei Rechten und Pflichten sind. Schon mehrfach haben die Bürgerschaftsabgeordneten aufgeregt über den Schwimmunterricht und die mangelnden Schwimmkenntnisse diskutiert. Warum wird nicht in dem Vertrag ausdrücklich festgehalten, dass die Schulpflicht auch im Schwimmbad gilt? Lehrer in Stadtteilen mit vielen Muslimen können ein Lied davon singen, dass Mädchen nicht schwimmen lernen dürfen. Aber wenn die Entschuldigung ordnungsgemäß geschrieben ist, wird es toleriert.
Verträge leben von einem Geben und Nehmen, von Rechten und Pflichten. Man darf bezweifeln, dass der Hamburger Vorstoß ein guter ist.
Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt