Hamburg. Es ist ein komplizierter Prozess voller Wendungen und Überraschungen: Zum ersten Mal in Deutschland stehen zehn mutmaßliche Piraten aus Somalia in Hamburg vor Gericht. Seit mehr als eineinhalb Jahren wird in dem wohl spektakulärsten Seeräuber-Prozess seit den Tagen Klaus Störtebekers verhandelt, und ein Ende ist nicht in Sicht – Termine hat das Landgericht bis in den November angesetzt. Die drei jüngsten Angeklagten sind bereits im April nach fast zwei Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Geht es nach dem Willen der Verteidiger, sollen jetzt die Haftbefehle von zwei weiteren Somaliern aufgehoben werden.

„Angesichts der schon über zwei Jahre andauernden Untersuchungshaft, des langen Verfahrens und des bisherigen Verfahrensverlaufs ist die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig“, sagte Anwältin Gabriele Heinecke am Donnerstag, dem 94. Verhandlungstag. Ein weiterer Verteidiger schloss sich dem Antrag an. Das Gericht will spätestens bis zum nächsten Verhandlungstag am 30. Juli eine Entscheidung treffen.

Seit November 2010 wird den zehn Somaliern der Prozess gemacht. Sie sollen am Ostermontag 2010 den Hamburger Frachter „Taipan“ vor der Küste Somalias beschossen und gekapert haben. Die 15-köpfige Besatzung wurde Stunden später von einem niederländischen Marinekommando befreit.

Anfang dieses Jahres zeichnete sich ein Ende des Prozesses ab: Die Staatsanwaltschaft hielt Ende Januar ihr Plädoyer – und forderte Haftstrafen zwischen vier und elfeinhalb Jahren für die Angeklagten. Doch dann kam das, was Verteidiger Rainer Pohlen mit einem „Tor in der 94. Minute“ beim Fußball vergleicht: „Dieses Verfahren steckt voller Überraschungen.“

Kurz gefasst: Mit Hilfe des Bundeskriminalamts (BKA) wurden plötzlich wichtige Zeugen in Indien gefunden. Im Februar teilte das Gericht den Prozess in zwei Verfahren – um zumindest in einem Verfahren zu einem schnellen Ende zu kommen. Weil ein Angeklagter dann jedoch überraschend ein Geständnis ankündigte, das alle Somalier betreffen sollte, wurde dieser Schritt rückgängig gemacht.

In dem Geständnis bezichtigte er seine Mitangeklagten der Lüge. Alle zehn Somalier hätten bei dem Überfall auf den Hamburger Frachter „Taipan“ freiwillig mitgemacht, betonte der Mann – sie seien nicht, wie von manchen vor Gericht behauptet, dazu gezwungen worden. Seine Mitangeklagten wiederum erklärten, Drahtzieher des Überfalls seien Verwandte des geständigen Angeklagten gewesen; diese hätten den Überfall von London aus organisiert und Waffen besorgt.

Wie geht es nun weiter? „Im September wird sich herausstellen, ob es zu einem Ende der Beweisaufnahme kommt“, sagt Pohlen, der den jüngsten Angeklagten vertritt. „Keiner war darauf eingerichtet, hier nach über eineinhalb Jahren noch zu sitzen.“ Das Gericht habe „mit außerordentlicher Akribie und Geduld“ die Beweisaufnahme betrieben, lobt der Anwalt. Es sei ein „außerordentlich faires Verfahren“: „Das Gericht hat sich wahnsinnig viel Mühe gegeben, die Hintergründe der Piraterie zu ergründen.“ Die Staatsanwaltschaft dagegen habe „überhaupt nichts Entlastendes ermittelt“, kritisiert Pohlen.

Die drei jüngsten Angeklagten, die nun in einer betreuten Wohneinrichtung leben, hätten sich nach ihrer Freilassung „prächtig entwickelt“, sagt der Verteidiger. „Die Jungs sind freundlich, prima drauf, sie haben Freude am Leben, das sind alles patente Jungs.“ Sie gehen nach Pohlens Angaben regelmäßig zur Schule und lernen Deutsch.

Sein Mandant – er soll zur Tatzeit 17 Jahre alt gewesen sein - kann schon gut Deutsch. „Perspektivisch will er einen Schulabschluss und eine Ausbildung machen“, sagte der Anwalt. Vermutlich als Elektriker oder Schweißer – auch wenn sein Traum Pilot ist. Von Deutschland aus wolle er seine Geschwister in Somalia unterstützen - und damit eine Art „Aufbauhilfe“ für sein Land leisten.